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»Nein, schon gut«, sagte ich. »Ich glaube … Ich gehe nur ins Freie und schnappe ein wenig Luft.«

Kapitel 99

Schmetterling auf dem Schlachthof

Rollo lag unter einem Busch und verzehrte geräuschvoll die Überreste eines Eichhörnchens, das er gefangen hatte. Ian saß auf einem Felsbrocken und sah ihm zu.

Die Stadt Philadelphia lag gerade eben außer Sichtweite; er konnte den Rauch der Feuer riechen, den Gestank Tausender Menschen, die auf engstem Raum zusammengepfercht lebten. Konnte das Klappern und Scheppern von Menschen hören, die dorthin unterwegs waren, auf der Straße, die nur ein paar Hundert Meter von ihm entfernt verlief. Und irgendwo, nicht mehr als eine Meile weit weg, versteckt in dieser Masse von Häusern und Menschen … war Rachel Hunter.

Am liebsten hätte er sich auf die Straße begeben und wäre ihr bis ins Herz von Philadelphia gefolgt, um die Stadt dann Stein für Stein auseinanderzunehmen, bis er sie fand.

»Wo fangen wir an, a cú?«, sagte er zu Rollo. »Wahrscheinlich in der Druckerei.«

Er war noch nie dort gewesen, vermutete aber, dass das Haus nicht schwer zu finden sein würde. Fergus und Marsali würden ihm Zuflucht gewähren – und ihm etwas zu essen geben, dachte er, während er spürte, wie sein Magen knurrte –, und vielleicht konnten ihm Germain und die Mädchen ja bei der Suche nach Rachel helfen. Vielleicht konnte Tante Claire … Nun, er wusste zwar, dass sie keine Hexe oder Fee war, doch er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie etwas Besonderes war, und vielleicht konnte sie Rachel tatsächlich für ihn finden.

Er wartete, bis Rollo aufgefressen hatte, dann erhob er sich – und wurde von einer außerordentlichen Wärme durchströmt, obwohl der Himmel bedeckt und der Tag kühl war. Konnte er sie so finden?, fragte er sich. Indem er einfach durch die Straßen wanderte und wie die Kinder »Wärmer, kälter« spielte … und es ihm selbst immer wärmer wurde, je näher er ihrem Quartier kam, um schließlich bei ihr anzugelangen, kurz bevor er in Flammen aufgehen konnte?

»Du könntest ruhig mithelfen, weißt du?«, forderte er Rollo tadelnd auf. Er hatte sofort versucht, Rollo dazu zu bewegen, ihre Spur zurückzuverfolgen, als ihn der Hund gefunden hatte. Doch der Hund war so verrückt vor Freude über Ians Rückkehr gewesen, dass mit ihm nicht zu verhandeln gewesen war. Doch das war keine schlechte Idee – falls sie irgendwo ihre Fährte kreuzten, konnte Rollo sie möglicherweise aufnehmen, jetzt, da er seine Freude abreagiert hatte.

Er lächelte schief bei diesem Gedanken; der Großteil der britischen Armee hatte sein Lager zwar in Germantown aufgeschlagen, doch Tausende von Soldaten waren zusätzlich in der Stadt selbst einquartiert. Genauso gut konnte er den Hund bitten, der Witterung eines Schmetterlings über einen Schlachthof zu folgen.

»Na gut, wenn wir hier weiter herumsitzen, finden wir sie gar nicht«, sagte er zu Rollo und stand auf. »Komm mit, Hund.«

Kapitel 100

Warte, warte nur ein Weilchen …

Ich wartete darauf, dass alles einen Sinn ergab. Doch nichts geschah. Seit fast einem Monat lebte ich jetzt in John Greys Haus mit seiner anmutigen Treppe, seinem Kristalllüster, den Orientteppichen und dem feinen Porzellan. Und doch erwachte ich jeden Tag, ohne zu wissen, wo ich war, und streckte über das leere Bett hinweg die Hand nach Jamie aus.

Ich konnte es nicht glauben, dass er tot war. Ich konnte es nicht. Wenn ich in der Nacht die Augen schloss, hörte ich ihn langsam und sacht an meiner Seite atmen. Ich spürte seinen Blick auf mir, humorvoll, lüstern, verärgert, leuchtend vor Liebe. Jeden Tag drehte ich mich ein halbes Dutzend Mal um, weil ich mir einbildete, hinter mir seinen Schritt zu hören: öffnete den Mund, um etwas zu ihm zu sagen – hatte ihn tatsächlich mehr als einmal angesprochen, und erst als ich die Worte in der Leere verhallen hörte, begriff ich, dass er nicht da war.

Jeder dieser Momente vernichtete mich erneut. Und doch brachte mich keiner davon mit seinem Tod in Einklang. Mit sinkendem Mut hatte ich mir seinen Tod vorgestellt. Er hätte es absolut gehasst zu ertrinken. Ausgerechnet! Ich konnte nur hoffen, dass das Schiff schlagartig untergegangen war und er bewusstlos im Wasser gelandet war. Denn sonst … Er konnte doch nicht aufgeben, hätte es niemals getan. Er wäre geschwommen und immer weitergeschwommen, endlose Meilen von jedem Ufer entfernt, allein in der leeren Tiefe, wäre stur immer weitergeschwommen, weil er nicht aufgeben und nicht kampflos ertrinken konnte. Er wäre geschwommen, bis sein kraftvoller Körper erschöpft war, bis er die Hand nicht mehr heben konnte, und dann …

Ich drehte mich um und presste das Gesicht fest in mein Kissen, und das Grauen umklammerte mein Herz.

»Was für eine dumme, dumme Verschwendung!«, schluchzte ich tonlos in die Federn hinein und krallte die Fäuste in das Kissen, so fest ich konnte. Wenn er wenigstens in der Schlacht gestorben wäre … Ich drehte mich wieder auf den Rücken und schloss die Augen, biss mir auf die Unterlippe, bis Blut kam.

Schließlich wurde mein Atem langsamer, und ich öffnete die Augen in der Dunkelheit und begann zu warten. Auf Jamie zu warten.

Etwas später öffnete sich die Tür, und aus dem Flur fiel ein Lichtstreifen in das Zimmer. John kam herein, stellte eine Kerze auf den Tisch an der Tür und kam zum Bett. Ich sah ihn nicht an, doch ich wusste, dass er auf mich hinunterblickte.

Ich lag auf dem Bett und starrte die Decke an. Oder blickte vielmehr durch die Decke hindurch in den Himmel. Dunkel, leer und voller Sterne. Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, eine Kerze anzuzünden, doch ich verfluchte die Dunkelheit nicht. Starrte nur hinein. Und wartete.

»Du bist sehr einsam, meine Liebe«, sagte er sanft, »und ich weiß das. Soll ich dir nicht Gesellschaft leisten, wenigstens für eine kleine Weile?«

Ich sagte nichts, doch ich rückte ein wenig zur Seite und wehrte mich nicht, als er sich neben mich legte und mich vorsichtig in die Arme nahm.

Ich legte den Kopf auf seine Schulter, dankbar für den Trost der simplen Berührung und der menschlichen Wärme, auch wenn sie nicht bis in die Tiefen meiner Trostlosigkeit drang.

Versuche, nicht zu denken. Akzeptiere das, was da ist; denke nicht über das nach, was nicht da ist.

Ich lag still und hörte John beim Atmen zu. Er atmete anders als Jamie, flacher, schneller. Jedes Mal mit einer kleinen Pause.

Langsam dämmerte mir, dass ich mit meiner Trostlosigkeit und meiner Einsamkeit nicht allein war. Und dass ich viel zu gut wusste, was beim letzten Mal geschehen war, als wir uns beide dieser Tatsache bewusst geworden waren. Diesmal waren wir zwar nicht betrunken, doch ich vermutete, dass er ebenfalls nicht umhinkonnte, sich daran zu erinnern.

»Möchtest du … dich von mir … trösten lassen?«, fragte er leise. »Ich weiß ja, wie es geht.« Und er streckte die Hand aus und legte mir den Finger mit solcher Langsamkeit und zärtlicher Leichtigkeit an eine solche Stelle, dass ich aufkeuchte und zur Seite fuhr.

»Das weiß ich.« Einen Moment lang fragte ich mich neugierig, wie er es wohl gelernt hatte, doch ich würde ihn nicht danach fragen. »Nicht dass ich den Gedanken nicht zu schätzen weiß – denn das tue ich«, versicherte ich ihm und spürte, wie mir die Hitze noch höher in die Wangen stieg. »Es ist – es ist nur …«

»Dass du das Gefühl haben würdest, ihm untreu zu sein?«, riet er. Er lächelte ein wenig traurig. »Ich verstehe.«

Dann folgte langes Schweigen. Und das Gefühl eines wachsenden Gespürs für den anderen.

»Du denn nicht?«, fragte ich. Er lag ganz still, als schliefe er, doch das tat er nicht.