Es war nicht weit, doch diese Quelle fühlte sich immer so an, als läge sie fernab von allem. Sie befand sich in der Mitte eines kleinen Hains aus Eschen und Hemlocktannen und war an der Ostseite durch einen mit Flechten bewachsenen Felsvorsprung geschützt. Wasser hat stets etwas Lebendiges an sich, und eine Gebirgsquelle, die rein aus dem Herzen der Erde entspringt, strahlt ein ganz besonderes Gefühl stiller Freude aus. Bei der weißen Quelle, die ihren Namen von dem großen hellen Felsbrocken hatte, der das Wasserbecken bewachte, war es jedoch noch mehr – sie schien von unberührtem Frieden erfüllt zu sein.
Je näher ich kam, desto sicherer war ich mir, dass ich Jamie dort finden würde.
»Es gibt dort etwas, das zuhört«, hatte er einmal wie beiläufig zu Brianna gesagt. »Es gibt solche Wasserbecken auch in den Highlands; man nennt sie Heiligenquellen – die Leute sagen, der Heilige lebt dort und hört ihren Gebeten zu.«
»Und was für ein Heiliger lebt in der weißen Quelle?«, hatte sie zynisch gefragt. »Sankt Killian?«
»Warum?«
»Der Schutzheilige der Gicht- und Rheumakranken und der Schönfärber.«
Er hatte gelacht und den Kopf geschüttelt.
»Was auch immer in diesem Wasser lebt, ist älter als die Vorstellung, dass es Heilige gibt«, versicherte er ihr. »Aber es hört zu.«
Ich ging mit leisen Schritten auf die Quelle zu. Die Eichelhäher waren verstummt.
Er war dort. Er saß auf einem Felsen am Wasser und trug nur sein Hemd. Ich begriff, warum die Eichelhäher wieder zum Tagesgeschäft übergegangen waren – er war so reglos wie der weiße Felsen selbst, und er hatte die Augen geschlossen. Seine Hände lagen offen auf seinen Knien, die Finger leicht gekrümmt.
Ich blieb abrupt stehen, als ich ihn sah. Ich hatte ihn schon einmal hier beten gesehen – als er Dougal MacKenzie um Beistand im Kampf gebeten hatte. Ich wusste nicht, mit wem er diesmal sprach, doch es war ein Gespräch, das ich nicht stören wollte.
Eigentlich sollte ich gehen, dachte ich – aber ganz abgesehen von meiner Befürchtung, dass ich ihn durch ein unbeabsichtigtes Geräusch stören würde, wollte ich nicht gehen. Die Quelle lag fast vollständig im Schatten, doch einzelne Lichtstrahlen drangen durch die Baumwipfel und liebkosten ihn. Die Luft war voller Pollen, und das Licht war von Goldstaub erfüllt. Es schlug Funken auf seinem Scheitel, seinen geschwungenen Fußrücken, seiner schmalen Nase, seinen Gesichtsknochen. Er hätte dort festgewachsen sein können, ein Teil von Erde, Stein und Wasser, hätte selbst der Geist der Quelle sein können.
Ich hatte nicht das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Der Friede der Quelle berührte mich sanft und verlangsamte meinen Herzschlag.
Was war es wohl, was er hier suchte?, fragte ich mich. Nahm er den Frieden des Berges in sich auf, um ihn sich einzuprägen, um sich während der Monate – vielleicht Jahre – des kommenden Exils daran zu stärken?
Ich würde diesen Moment im Gedächtnis behalten.
Das Licht begann zu schwinden, und die Luft verlor ihr Leuchten. Schließlich regte er sich und hob den Kopf ein wenig.
»Bitte lass mich genug sein«, sagte er leise.
Beim Klang seiner Stimme fuhr ich auf, doch er hatte nicht mit mir gesprochen.
Dann öffnete er die Augen und erhob sich so still, wie er dagesessen hatte. Er ging am Bach entlang, und seine schlanken Füße bewegten sich lautlos über den Teppich aus feuchten Blättern. Als er den Felsvorsprung passierte, sah er mich und lächelte. Wortlos streckte er die Hand aus, um das Plaid zu nehmen, das ich ihm entgegenhielt. Er sagte nichts, sondern nahm meine kalte Hand in seine warme, und wir gingen gemeinsam im Frieden des Berges heimwärts.
Ein paar Tage später kam er mich holen. Ich suchte gerade am Bachufer nach Blutegeln, die nach dem Winterschlaf nun allmählich zum Vorschein kamen und heißhungrig auf Blut waren. Sie waren nicht schwer zu fangen; ich watete einfach in Ufernähe durch das Wasser.
Im ersten Moment war der Gedanke, den lebenden Köder für die Egel zu geben, abstoßend, doch so bekam ich meine Egel schließlich immer – indem ich Jamie, Ian, Bobby oder irgendeinen aus dem Dutzend männlicher Heranwachsender durch die Bäche waten ließ und hinterher die Egel abpflückte. Und wenn man sich einmal an den Anblick der Tiere gewöhnt hatte, die sich langsam mit dem eigenen Blut vollsaugten, war es halb so schlimm.
»Ich muss sie genug Blut zum Überleben trinken lassen«, erklärte ich und verzog das Gesicht, während ich vorsichtig den Daumennagel unter den Sauger eines Blutegels schob, um ihn abzulösen, »aber nicht so viel, dass sie ins Koma fallen, denn dann nützen sie mir nichts.«
»Da brauchst du ja ein gutes Auge«, pflichtete mir Jamie bei, als ich den Blutegel in ein Gefäß mit Wasser und Entengrütze fallen ließ. »Wenn du deine zahmen Blutsauger fertig gefüttert hast, komm mit, und ich zeige dir die Höhle des Spaniers.«
Es war alles andere als ein kurzer Weg. Von Fraser’s Ridge circa vier Meilen durch kalte, schlammige Bäche und über steile Berghänge, dann durch einen Spalt in einer Granitwand, der mir das Gefühl gab, lebendig begraben zu sein, bevor wir eine Wildnis aus scharfkantigen Felsen betraten, die von wildem Wein umschlungen waren.
»Wir haben sie eines Tages auf der Jagd gefunden, Jem und ich«, erklärte Jamie, während er einen Laubvorhang beiseitehielt, um mich durchzulassen. Weinranken von der Dicke eines männlichen Unterarms wanden sich knorrig vom Alter über die Felsen, und noch bildete das rotgrüne Frühlingslaub keine geschlossene Oberfläche. »Es war unser Geheimnis. Wir haben ausgemacht, niemandem etwas davon zu erzählen – nicht einmal seinen Eltern.«
»Oder mir«, sagte ich, doch ich fühlte mich nicht gekränkt. Ich hörte die Trauer in seiner Stimme, als er Jem erwähnte.
Der Eingang der Höhle war eine Bodenspalte, die Jamie mit einem großen, flachen Stein bedeckt hatte. Diesen schob er jetzt mühsam beiseite, und ich beugte mich vorsichtig darüber. Im ersten Moment verkrampfte sich mein Magen, als ich die Luft durch den Riss strömen hörte. Doch die Luft an der Oberfläche war warm; die Höhle atmete ein, nicht aus.
Ich erinnerte mich nur zu gut an die Höhle von Abandawe, die rings um uns zu atmen schien, und es kostete mich einige Überwindung, Jamie zu folgen, als er jetzt im Erdinneren verschwand. Es gab eine grob gezimmerte Holzleiter – neu, wie ich sah, doch als Ersatz für eine sehr viel ältere Leiter, die in Stücke zerfallen war; einige wurmstichige Holzreste befanden sich noch an Ort und Stelle und baumelten an rostigen Eisenbolzen im Felsen.
Es konnten nicht mehr als drei oder dreieinhalb Meter bis zum Boden sein, doch der Einstiegstunnel war schmal, und der Abstieg kam mir ewig vor. Endlich kam ich unten an und sah, dass sich die Höhle nach allen Seiten hin öffnete wie der Bauch einer Flasche. Jamie hockte an der Wand; ich sah, wie er ein kleines Fläschchen hervorzog, und mir stieg beißender Terpentingeruch in die Nase.
Er hatte eine Fackel mitgebracht, ein knorriger Kiefernast, dessen Ende in Teer getaucht und mit einem Lappen umwickelt war. Er durchtränkte den Lappen mit Terpentin und hob dann das Feuerzeug, das Brianna für ihn gemacht hatte. Ein Funkenregen tauchte sein konzentriertes Gesicht in rötliches Licht. Noch zwei Versuche, dann fing die Fackel Feuer. Die Flamme schoss durch das brennbare Tuch und heftete sich an den Teer.
Er hielt die Fackel hoch und wies damit auf den Boden hinter mir. Ich drehte mich um und wäre fast aus der Haut gefahren.
Der Spanier lehnte sitzend an der Wand, die Skelettbeine vor sich ausgestreckt. Sein Kopf war vornübergefallen, als ob er döste. Hier und dort hing noch ein Büschel verblasster rötlicher Haare, doch die Haut war vollständig verschwunden. Seine Hände und Füße waren ebenfalls weitgehend verschwunden, denn Nager hatten die kleinen Knochen davongeschleppt.
Doch für größere Tiere war er unerreichbar gewesen. Sein Oberkörper und die langen Knochen waren zwar angenagt, jedoch weitgehend unbeschädigt; die Rundung seines Brustkorbs bohrte sich durch einen Stoffrest, der so verblichen war, dass man nicht mehr sagen konnte, welche Farbe er einmal gehabt hatte.