William lächelte. In Westminster, wo er zur Schule gegangen war, hatten alle Klassen einen einzigen großen Raum benutzt. Dieser war zwar durch einen Vorhang in die niedrigeren und höheren Klassen unterteilt gewesen, doch es wurden Jungen jedes Alters zusammen unterrichtet, und William hatte schnell gelernt, wann – und wie – er sich am besten unsichtbar machte oder mit Absicht auffiel, je nachdem, wer in seiner unmittelbaren Nähe war.
Nun denn. Was auch immer Onkel Hal über Richardson wusste, Papa bereitete es jedenfalls keine Sorgen. Natürlich, so rief er sich zu Bewusstsein, musste es ja nicht zwingend etwas Negatives sein. Der Herzog von Pardloe war zwar furchtlos, solange es um ihn selbst ging, doch im Hinblick auf seine Familie neigte er zu übertriebener Vorsicht. Vielleicht glaubte er ja nur, dass Richardson waghalsig war; wenn das der Fall war, würde sich Papa wahrscheinlich auf Williams gesunden Menschenverstand verlassen und es daher nicht erwähnen.
Es war stickig auf dem Speicher; der Schweiß tropfte William über das Gesicht und zerknitterte ihm das Hemd. Fortnum war wieder gegangen, ohne seinen Koffer zurückzuschieben. Dieser ragte unter seinem Feldbett hervor, das in Schieflage geraten war. William blieb gerade noch genug Platz, um aufzustehen und zur Tür zu gehen, und er flüchtete mit einem Gefühl der Erleichterung ins Freie. Dort war die Luft zwar heiß und feucht, doch immerhin stand sie nicht. Er setzte sich den Hut auf und machte sich auf den Weg herauszufinden, wo genau sein Vetter Adam einquartiert war. Die »fürchterlichen Umstände« klangen doch sehr vielversprechend.
Doch während er sich zwischen den Bauersfrauen hindurchschob, die unterwegs zum Marktplatz waren, spürte er den Brief in seinem Rock knistern, und Adams Schwester fiel ihm wieder ein.
Dottie lässt Dich herzlich grüßen, was sehr viel weniger Platz wegnimmt. Onkel Hal war zwar hinterlistig, dachte William, doch selbst der hinterlistigste Teufel tappt hin und wieder völlig im Dunkeln.
Die »fürchterlichen Umstände« hielten, was sie versprachen: ein Buch, eine Flasche mit ausgezeichnetem spanischem Sherry, ein Glas mit Oliven dazu und drei Paar neue Seidenstrümpfe.
»Ich ertrinke in Strümpfen«, versicherte Adam ihm, als William versuchte, seine Ausbeute mit ihm zu teilen. »Mutter kauft sie en gros und schickt, glaube ich, mit jedem Schiff welche. Du hast Glück, dass sie nicht auf die Idee gekommen ist, dir neue Unterhosen zu schicken; ich bekomme jedes Mal welche mit der Diplomatenpost, und du kannst dir ja vorstellen, wie peinlich es ist, Sir Henry das zu erklären … Aber zu einem Glas von deinem Sherry würde ich nicht Nein sagen.«
William war sich nicht sicher, ob das ein Scherz war; Adam hatte ein ernstes Gesicht, was ihm im Umgang mit den ranghöheren Offizieren gute Dienste tat, und zudem beherrschte er diesen Trick der Greys, die ungeheuerlichsten Dinge zu sagen, ohne dabei eine Miene zu verziehen. William lachte dennoch und rief unten nach Gläsern.
Einer von Adams Freunden brachte drei Gläser herbei und blieb hilfreicherweise gleich da, um beim Leeren des Sherrys zu helfen. Ein weiterer Freund erschien wie aus dem Nichts – es war sehr guter Sherry – und holte eine kleine Flasche Portwein aus seiner Truhe, um seinen Beitrag zu den Festivitäten zu leisten. Wie es solche Zusammenkünfte nun einmal an sich haben, vermehrten sich sowohl Flaschen als auch Freunde, bis jede waagerechte Oberfläche in Adams Zimmer – das zugegebenermaßen nicht groß war – besetzt war.
William hatte großzügigerweise zu dem Sherry seine Oliven spendiert, und als die Flasche zur Neige ging, prostete er auf seine Tante und ihre großzügigen Geschenke, wobei er nicht vergaß, die Strümpfe zu erwähnen.
»Wobei ich allerdings davon ausgehe, dass es nicht deine Mutter war, die auf die Idee mit dem Buch gekommen ist, oder?«, sagte er zu Adam und atmete heftig aus, während er sein leeres Glas sinken ließ.
Adam bekam einen Kicheranfall, denn sein üblicher Ernst hatte sich völlig im Rumpunsch aufgelöst.
»Nein«, gackerte er, »und Pabba war es auch nicht. Das war mein eigener B-Beitrag zur kullu…, ich meine kulterellen Weidderentwigglung in den Kolonien.«
»Ein wahrhaft großer Dienst an der Menschheit und der Zivilisation«, versicherte ihm William ernst und gab gleichzeitig damit an, wie gut er seine Zunge trotz des Alkohols im Zaum halten konnte.
Da nun der allgemeine Ausruf »Was für ein Buch? Was für ein Buch? Zeig uns dieses viel gepriesene Buch!« folgte, war er gezwungen, die Krönung seiner Geschenkesammlung hervorzuholen: ein Exemplar der berühmten »Liste der Damen vom Covent Garden« eines gewissen Mr Harris – ein schwelgerischer Katalog der Vorzüge und Spezialitäten, der Preise und der Verfügbarkeit der besten Huren, die in London zu finden waren.
Das Auftauchen des Buches wurde mit Ausrufen des Entzückens begrüßt, und nach allgemeinem Gerangel rettete William es, bevor es in Stücke gerissen wurde. Allerdings ließ er sich dazu überreden, einige Passagen laut vorzulesen, und seine bühnenreife Darbietung wurde mit begeistertem Wolfsgeheul und einem Hagel von Olivenkernen belohnt.
Vorlesen macht natürlich Durst, und man rief nach weiteren Erfrischungen, die prompt vertilgt wurden. Er hätte nicht sagen können, wer zuerst den Vorschlag machte, dass die Anwesenden einen Expeditionstrupp bilden sollten, um eine ähnliche Liste auch für New York zu verfassen. Egal, wer es war, sein Vorschlag wurde begeistert aufgenommen und mit Rumpunsch gefeiert – inzwischen waren alle Flaschen leer.
Und so kam es schließlich, dass er gemeinsam mit den anderen vom Alkohol umnebelt durch enge Straßen wanderte, deren Dunkelheit von kerzenerhellten Fenstern unterbrochen wurde und hin und wieder von einer Hängelaterne an einer Kreuzung. Niemand schien ein bestimmtes Ziel zu haben, und doch rückten sie geschlossen vor wie ein Mann, angezogen von einem geheimen Lockruf.
»Wie Rüden, die einer läufigen Hündin folgen«, stellte er fest, und zu seiner Überraschung quittierte einer von Adams Freunden diese Bemerkung mit einem beifälligen Schulterschlag – ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er laut gesprochen hatte. Schließlich erreichten sie eine Gasse, in der zwei oder drei in rotes Musselintuch gehüllte Laternen hingen, deren Schimmer die Türen – die einladend offen standen – blutrot leuchten ließ. Der Anblick wurde von Geheul begrüßt, und die Möchtegernkundschafter hielten zielsicher darauf zu. Nur einmal blieben sie kurz mitten auf der Straße stehen, um darüber zu diskutieren, mit welchem der Etablissements sie ihre Recherchen beginnen sollten.
William selbst beteiligte sich kaum an der Diskussion; die Luft war drückend und schwül und stank nach Vieh und Abwasser, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass wohl eine der Oliven, die er gegessen hatte, schlecht gewesen war. Er schwitzte heftig; seine Haut war wie mit Öl überzogen, und seine feuchten Kleider klebten so beharrlich an ihm, dass ihm der schreckliche Gedanke kam, er könnte womöglich nicht in der Lage sein, sich rechtzeitig die Hose herunterzuziehen, sollte sich die Störung in seinem Inneren plötzlich entschließen, einen südlichen Kurs einzuschlagen.
Er setzte ein gezwungenes Lächeln auf und bedeutete Adam mit einer vagen Armbewegung, nach Belieben zu verfahren – William würde noch ein wenig weitergehen.
Gesagt, getan. Er ließ die lärmenden jungen Offiziere hinter sich und stolperte an der letzten der roten Laternen vorüber. Er sah sich verzweifelt nach irgendeiner Nische um, in der er sich übergeben konnte, doch da er nichts Geeignetes fand, kam er schließlich wankend zum Halten und erbrach sich ausgiebig in einem Hauseingang – woraufhin zu seinem Entsetzen die Tür aufschwang und einen zutiefst empörten Hausbewohner preisgab, der keinerlei Erklärungen, Entschuldigungen oder Entschädigungsangebote abwartete, sondern einen Knüppel hinter der Tür hervorholte und William unter unverständlichen Flüchen – möglicherweise auf Deutsch – die Straße entlangjagte.