Der Alltag in Fraser’s Ridge hatte sich ja bereits drastisch verändert – durch die zunehmende Gewalt, die Turbulenzen des Krieges und die Zerstörung unseres Hauses. Er würde sich noch mehr ändern, wenn Jamie und ich fort waren.
Wer würde der natürliche Anführer sein? Hiram war de facto das Oberhaupt der presbyterianischen Fischerfamilien aus Thurso – doch er war ein rigider, humorloser Mensch, der wahrscheinlich eher für Reibungen mit dem Rest der Siedlergemeinschaft sorgen würde, als die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Zusammenarbeit großzuschreiben.
Bobby? Nach reiflicher Überlegung hatte Jamie ihn zum Faktor ernannt und ihn mit der Aufsicht über unseren Besitz beauftragt – zumindest das, was davon übrig war. Doch zu seinen angeborenen Talenten – oder ihrem Fehlen – kam die Tatsache, dass Bobby noch sehr jung war. Es war deshalb leicht möglich, dass er – gemeinsam mit vielen der anderen Männer von Fraser’s Ridge – vom kommenden Sturm mitgerissen und gezwungen wurde, in einer der Milizen zu dienen. Es würden allerdings nicht die Truppen der Krone sein; er war britischer Soldat und sieben Jahre zuvor in Boston stationiert gewesen, wo er und einige seiner Kameraden von einem Pöbel aus mehreren Hundert aufgebrachten Bostoner Bürgern bedroht worden waren. In ihrer Todesangst hatten die Soldaten ihre Musketen geladen und sie auf die Menge gerichtet. Es hatte Steine und Holzknüppel gehagelt, dann waren Schüsse gefallen – man hatte nie festgestellt, wer sie abgefeuert hatte, und ich hatte Bobby nie danach gefragt –, und es hatte Tote gegeben.
Bei dem darauffolgenden Prozess war Bobby zwar mit dem Leben davongekommen, doch er trug ein Brandzeichen auf der Wange – »M« stand für »Mörder«. Ich hatte keine Ahnung von seinen politischen Überzeugungen – er sprach niemals von solchen Dingen –, aber in der britischen Armee würde er nie wieder kämpfen.
Etwas ruhiger drückte ich die Tür zur Hütte wieder auf.
Jamie und Ian diskutierten inzwischen darüber, ob das neue Kind Rodneys Bruder oder Schwester sein würde oder ein Halbgeschwisterchen.
»Nun, es ist doch nicht zu sagen, oder?«, sagte Ian. »Niemand weiß, ob Jo oder Kezzie den kleinen Rodney gezeugt hat, und mit diesem Kind ist es genauso. Wenn Jo Rodneys Vater ist und Kezzie der von diesem Kind …«
»Eigentlich spielt es keine Rolle«, unterbrach ich ihn und schüttete Wasser aus dem Eimer in den Kessel. »Jo und Kezzie sind eineiige Zwillinge. Das bedeutet, dass auch ihr … äh … Sperma identisch ist.« Das war zwar arg vereinfacht, aber es war viel zu früh am Tage für einen Vortrag über Reduktionsteilung bei der Fortpflanzung und rekombinante DNA. »Wenn sie dieselbe Mutter haben – und die haben sie – und einen genetisch identischen Vater – und das sind die beiden –, dann sind sämtliche Kinder Vollgeschwister.«
»Ihr Samen ist gleich?«, wollte Ian ungläubig wissen. »Woher weißt du das? Hast du etwa nachgesehen?«, fügte er hinzu und musterte mich mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen.
»Nein«, sagte ich ernst. »Ich brauchte nicht nachzusehen. Ich kenne mich mit solchen Dingen aus.«
»Oh, aye«, sagte er und nickte respektvoll. »Natürlich. Manchmal vergesse ich, wer du bist, Tante Claire.«
Ich war mir nicht ganz sicher, was er damit meinte, doch es schien mir weder notwendig nachzufragen noch, ihm zu erklären, dass mein Wissen über die Fortpflanzungsprozesse der Beardsleys akademischer Natur war und nichts Übernatürliches an sich hatte.
»Aber diesmal ist Kezzie der Vater, oder?«, wandte Jamie stirnrunzelnd ein. »Ich habe Jo doch fortgeschickt; es ist Kezzie, mit dem sie im letzten Jahr zusammengelebt hat.«
Ian sah ihn mitleidig an.
»Und du glaubst, er ist gegangen?«
»Ich habe ihn jedenfalls nicht mehr gesehen«, sagte Jamie, doch seine dichten roten Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Nun ja, das wäre auch schwer möglich gewesen«, räumte Ian ein. »Sie sind bestimmt sehr vorsichtig gewesen, weil sie dich nicht verärgern wollten. Mehr als einer von ihnen war bestimmt nie dort zu sehen – zur selben Zeit«, fügte er beiläufig hinzu.
Wir starrten ihn beide an. Er blickte von dem Schinkenstück in seiner Hand auf und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich kenne mich mit solchen Dingen aus, aye?«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Nach dem Abendessen ließ sich der Haushalt für die Nacht nieder. Familie Higgins zog sich in das hintere Schlafzimmer zurück, wo sie alle gemeinsam in dem einzigen vorhandenen Bett schliefen.
Beinahe zwanghaft öffnete ich das Bündel mit meiner Hebammenausrüstung und breitete es aus, um es ein weiteres Mal zu überprüfen. Schere, weißer Zwirn für die Nabelschnur. Saubere Lappen, mehrfach ausgespült, um auch die letzte Spur der groben Seife zu entfernen, ausgekocht und getrocknet. Ein großes Quadrat aus gewachstem Leinen, um die Matratze vor Feuchtigkeit zu schützen. Eine kleine Flasche Alkohol, zur Hälfte mit sterilem Wasser verdünnt. Ein kleiner Beutel mit gewaschenen – aber nicht gekochten – Wollbäuschen. Ein zusammengerolltes Stück Pergament als Ersatz für mein Stethoskop, das ein Raub der Flammen geworden war. Ein Messer. Und ein Stück dünner Draht, der an einem Ende geschärft und wie eine Schlange zusammengerollt war.
Ich hatte nicht viel zu Abend gegessen – wie schon tagsüber nicht –, hatte aber ständig das Gefühl, mir käme die Galle hoch. Ich schluckte, wickelte das Bündel wieder zusammen und band es mit einem Stück Schnur fest zusammen.
Ich spürte Jamies Blick auf mir und sah auf. Er sagte nichts, lächelte aber schwach, und seine Augen waren warm. Im ersten Moment wurde mir leichter ums Herz – dann verkrampfte es sich wieder, denn ich fragte mich, was er wohl denken würde, wenn es zum Schlimmsten kam und ich gezwungen war … Doch er hatte den Stich der Angst in meinem Gesicht gesehen, und ohne den Blick von mir abzuwenden, holte er wortlos den Rosenkranz aus seinem Sporran und fing schweigend an, die Perlen zu zählen, deren abgenutztes Holz ihm langsam durch die Finger glitt.
Zwei Nächte später fuhr ich aus dem Schlaf, weil ich draußen auf dem Pfad Schritte hörte, und ich war schon auf den Beinen und halb angezogen, bevor Jos Klopfen an der Tür ertönte. Jamie ließ ihn ein; ich hörte, wie sie sich murmelnd unterhielten, während ich unter der Kaminbank nach meinem Bündel tastete. Jo klang aufgeregt, ein wenig besorgt – aber nicht panisch. Das war gut; hätte Lizzie Angst gehabt oder sich in ernsthaften Schwierigkeiten befunden, hätte er das sofort gewusst – die Zwillinge hatten fast dasselbe Gespür für Lizzies Stimmungen und für ihr Wohlergehen, wie sie es füreinander hatten.
»Soll ich mitkommen?«, flüsterte Jamie, der plötzlich neben mir auftauchte.
»Nein«, erwiderte ich leise und berührte ihn, damit er mir Kraft spendete. »Geh wieder schlafen. Ich lasse dich holen, wenn ich dich brauche.«
Er war vom Schlaf zerzaust, und die Glut des Feuers malte ihm Schatten ins Haar, doch sein Blick war hellwach. Er nickte und küsste meine Stirn, doch statt zurückzutreten, legte er mir die Hand auf den Kopf und flüsterte: »O seliger Michael aus dem roten Reich«, dann berührte er zum Abschied meine Wange.
»Wir sehen uns morgen früh, Sassenach«, sagte er und schob mich sanft zur Tür.
Zu meiner Überraschung schneite es draußen. Der Himmel war grau und lichterfüllt, und in der Luft tanzten riesige, wirbelnde Flocken, die mein Gesicht streiften und auf meiner Haut schmolzen. Es war eine Wetterlaune des Frühlings; ich konnte sehen, wie sich die Flocken kurz auf den Grashalmen niederließen und dann unsichtbar wurden. Am Morgen würde der Schnee wahrscheinlich spurlos verschwunden sein, doch jetzt erfüllte er die Nacht wie ein Geheimnis. Ich drehte mich um, um zurückzublicken, doch ich konnte die Hütte hinter uns nicht sehen – nur die Umrisse halb verborgener Bäume, unsicher im perlgrauen Licht. Der Weg vor uns sah ebenfalls unwirklich aus und verlor sich zwischen seltsamen Bäumen und fremden Schatten.