Ich fühlte mich merkwürdig körperlos, gefangen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, und ich sah nichts außer der wirbelnden weißen Stille, die mich umgab. Und doch hatte ich mich seit Tagen nicht mehr so ruhig gefühlt. Ich spürte Jamies Händedruck auf meinem Kopf und seinen geflüsterten Segensspruch. O seliger Michael aus dem roten Reich …
Es war der Segen, den man einem Krieger gab, der in die Schlacht zog. Ich hatte ihn schon mehr als einmal über Jamie gesprochen. Er selbst hatte so etwas noch nie getan, und ich hatte keine Ahnung, was ihn heute dazu bewogen hatte – doch die Worte glühten in meinem Herzen, ein kleiner Schutzschild gegen die Gefahren, die mich erwarteten.
Inzwischen bedeckte der Schnee den Boden mit einer dünnen Decke, die die dunkle Erde und das junge Wachstum unter sich verbarg. Jos Füße hinterließen deutliche schwarze Abdrücke, denen ich bergauf folgte. Die Nadeln der Fichten strichen kalt und duftend über meine Röcke, während ich der lebendigen Stille lauschte, die wie eine Glocke widerhallte.
Wenn es je eine Nacht gab, in der die Engel auf der Erde wandelten, so betete ich, dass es diese war.
Der Fußweg zur Hütte der Beardsleys dauerte fast eine Stunde – bei Tageslicht und gutem Wetter. Doch die Angst beschleunigte meine Schritte, und Jo – ich glaubte jedenfalls, dass es Jo war – hatte Mühe mitzuhalten.
»Wie lange hat sie schon Wehen?«, fragte ich. Man konnte ja nie wissen, aber Lizzies erste Geburt war sehr schnell gegangen; sie hatte den kleinen Rodney ganz allein und ohne jeden Zwischenfall zur Welt gebracht. Ich glaubte nicht, dass wir heute Nacht auch solches Glück haben würden, obwohl ich nicht verhindern konnte, dass sich mein Kopf ausmalte, wie Lizzie bei unserem Eintreffen das neue Baby schon im Arm hatte, nachdem es ganz von selbst heil herausgeflutscht war.
»Noch nicht lange«, keuchte er. »Ihre Fruchtblase ist ganz plötzlich geplatzt, als wir alle im Bett waren, und sie hat gesagt, ich soll Euch am besten sofort holen.«
Ich versuchte, dieses »alle« zu überhören – es war ja schließlich möglich, dass er oder Kezzie auf dem Boden geschlafen hatte –, doch die Menage der Beardsleys war das personifizierte Verwechslungsspiel; keiner, der die Wahrheit kannte, konnte an sie denken, ohne daran zu denken, wie sie …
Ich wollte nicht wissen, wie lange er und Kezzie schon gemeinsam in der Hütte wohnten; Ian zufolge war ja keiner von ihnen je fort gewesen. Angesichts der Lebensbedingungen im Hinterland hätte niemand bei der Vorstellung, dass ein Mann mit seiner Frau und seinem Bruder zusammenlebte, auch nur eine Miene verzogen. Den Bewohnern von Fraser’s Ridge war lediglich bekannt, dass Lizzie mit Kezzie verheiratet war. Als Resultat einer Intrige, die mich heute noch in Staunen versetzte, war sie aber ebenfalls mit Jo verheiratet. Doch darüber bewahrte der Haushalt der Beardsleys auf Jamies Anordnung Stillschweigen.
»Ihr Vater ist bestimmt da«, sagte Jo. Sein Atem stieg in weißen Wölkchen auf, als er jetzt an meine Seite kam, weil der Pfad breiter wurde. »Und Tante Monika. Kezzie ist sie holen gegangen.«
»Ihr habt Lizzie allein gelassen?«
Er zog beklommen die Schultern hoch.
»Sie wollte es so«, sagte er schlicht.
Ich antwortete ihm erst gar nicht, sondern beschleunigte meine Schritte, bis mich die Seitenstiche zwangen, ein wenig langsamer zu gehen. Wenn Lizzie das Kind nicht bereits geboren hatte, verblutet war oder Opfer einer anderen Katastrophe geworden war, während sie allein war, würde es sicher hilfreich sein, »Tante Monika« – Mr Wemyss’ zweite Frau – zur Hand zu haben. Monika Berrisch Wemyss war eine Deutsche, die ein sehr eingeschränktes und exzentrisches Englisch sprach, deren Mut und gesunder Menschenverstand jedoch keine Grenzen kannten.
Mr Wemyss mangelte es ebenfalls nicht an Mut, doch es war eine stille Art von Mut. Er erwartete uns mit Kezzie auf der Veranda, und es war nicht zu übersehen, dass er seinen Schwiegersohn stützte, nicht umgekehrt. Kezzie hüpfte händeringend von einem Fuß auf den anderen, während sich Mr Wemyss’ schmächtige Gestalt tröstend zu ihm hinüberbeugte, eine Hand auf seinem Arm. Ich hörte leises Murmeln, und dann sahen sie uns und wandten sich uns zu, plötzliche Hoffnung in ihrer nun aufrechten Haltung.
Ein leiser, lang gezogener Heullaut kam aus der Hütte, und die Männer erstarrten, als wäre es ein Wolf gewesen, der aus der Dunkelheit auf sie zustürzte.
»Nun, das klingt doch gut«, sagte ich gelassen, und alle drei atmeten im selben Moment hörbar aus. Ich hätte am liebsten gelacht, hielt es aber für besser, es zu lassen, und drückte die Tür auf.
»Uff«, sagte Lizzie und blickte vom Bett auf. »Oh, Ihr seid es, Ma’am. Dem Himmel sei Dank.«
»Gott sei Dank, aye«, pflichtete Tante Monika ihr in aller Ruhe bei. Sie kroch auf allen vieren über den Boden, den sie mit einem Tuch abwischte. »Nicht mehr lange, hoffe ich.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Lizzie und schnitt eine Grimasse. »GAAAAARRRRRGH!« Ihr Gesicht verzerrte sich krampfhaft und wurde leuchtend rot, und ihr angeschwollener Körper bäumte sich auf. Sie sah eher aus wie ein Mensch in den Klauen des Wundstarrkrampfes als eine werdende Mutter, doch zum Glück währte der Krampf nicht lange, und sie sank keuchend zu einem schlaffen Häufchen zusammen.
»So ist es letztes Mal aber nicht gewesen«, klagte sie und öffnete ein Auge, während ich ihren Bauch abtastete.
»Keine Geburt gleicht der anderen«, sagte ich geistesabwesend. Beim ersten raschen Blick hatte mein Herz einen Freudensprung getan; das Kind lag nicht mehr quer. Andererseits … lag es auch nicht sauber mit dem Kopf nach unten. Es bewegte sich nicht – die meisten Babys bewegten sich während der Geburt nicht –, und ich glaubte zwar, den Kopf unter Lizzies Rippen ausgemacht zu haben, doch was den Rest betraf, war ich mir nicht sicher.
»Dann wollen wir uns das einmal ansehen …« Sie war nackt in einen Quilt gehüllt. Ihr nasses Hemd hing dampfend auf einer Stuhllehne vor dem Feuer. Das Bett war allerdings nicht nass, woraus ich schloss, dass sie gespürt hatte, wie ihre Fruchtblase platzte, und es geschafft hatte, sich hinzustellen, bevor das Wasser kam.
Ich hatte mich vor dieser Untersuchung gefürchtet und atmete jetzt hörbar erleichtert aus. Die größte Angst bei einer Steißlage ist die, dass beim Platzen der Fruchtblase ein Teil der Nabelschnur vorfällt und dann zwischen dem Becken und dem Fötus eingeklemmt wird. Doch es war alles gut, und ich konnte fühlen, dass der Muttermund fast vollständig geöffnet war.
Jetzt konnten wir nur noch abwarten und sehen, was zuerst herauskam. Ich rollte mein Bündel auseinander, und nachdem ich die Drahtschlaufe hastig unter ein Paket mit Tüchern geschoben hatte, breitete ich das Wachstuch aus und hievte Lizzie mit Tante Monikas Hilfe hinauf.
Monika blinzelte und warf einen Blick auf die Wiege, in der Klein Rodney schnarchte, als Lizzie erneut einen dieser gespenstischen Heullaute ausstieß. Sie sah mich an, um sich zu vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte, dann nahm sie Lizzies Hände und murmelte ihr leise auf Deutsch zu, während Lizzie stöhnte und keuchte.
Die Tür knarrte leise, und als ich mich umdrehte, sah ich einen der Beardsleys mit einer Miene zwischen Angst und Hoffnung in die Hütte spähen.
»Ist es schon da?«, flüsterte er heiser.
»NEIN!«, brüllte Lizzie und setzte sich kerzengerade hin. »Verschwinde bloß, sonst reiße ich dir die Eier ab! Alle vier!«
Die Tür schloss sich prompt, und Lizzie sank schnaufend in sich zusammen.
»Ich hasse sie«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich will, dass sie sterben!«
»Mm-hm«, sagte ich mitfühlend. »Nun, mit Sicherheit leiden sie gerade sehr.«
»Gut.« Ihre Wut verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in Pathos, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Werde ich sterben?«