Eine Moke alle zwei Stunden, kalkulierte ich, wäre gerade richtig dafür. Also entwarf ich eine kleine Tabelle:
6:00 morgens
8:00 morgens
10:00 morgens
- und so weiter den Tag hindurch bis zehn Uhr abends, wenn ich Nelson Rockwell aus unserer Bettbox werfen, mir die letzte als Schlummertrunk genehmigen und so einschlafen konnte.
Als ich sie zusammenzählte, stellte sich heraus, daß eine Moke alle zwei Stunden für die sechzehn wachen Stunden eines jeden Tages unter dem Strich neun statt acht ergaben - außer, ich wollte entweder die zum Aufwachen oder die zum Einschlafen aufgeben. Das hatte ich nicht vor. Und überhaupt, was zum Teufel, neun waren doch nicht zu viel! Ich war sehr zufrieden mit meiner kleinen Tabelle. Sie war ein solch wirksames und effektives kleines Schema, daß ich nicht begreifen konnte, warum anscheinend noch keiner vor mir daran gedacht hatte.
Und, bei Gott, ich hielt mich daran. Fast einen ganzen Tag.
Es kostete ein bißchen Willenskraft, die ersten beiden Stunden bis acht Uhr abzuwarten, aber ich trödelte beim Frühstück und hing unter der Brause herum, bis die anderen Mieter gegen die Tür zu hämmern begannen. Dann war es noch lange hin bis zehn, aber ich ließ mir Zeit, als ich zum Agenturgebäude ging, und danach arbeitete ich mir ein kleines Hilfsschema aus. Man schickte mich sofort zu Botengängen los. Ich sah gar nicht auf die Uhr, während ich von einer Station zur anderen strampelte - na ja, meistens jedenfalls nicht; was ich vielmehr tat, war, abzuwarten, bis ich zu einem Haltepunkt kam, bevor ich einen Blick auf die Uhr warf und mir ausrechnete, wie viele Haltepunkte es noch dauern würde, bevor die nächste Moke fällig war. So pflegte ich zu mir selbst zu sagen: »Nicht am Graphikstudio, nicht an der Bank, nicht an der Theaterkasse für Audrey Wixons Karten - wenn ich zum Restaurant komme, um Mr. Xens Brille abzuholen, die er gestern abend dort vergessen hat, dann dürfte so ungefähr die nächste fällig sein.« Es klappte gut. Na ja - nahezu gut. Nach dem Mittagessen gab es ein kleines Mißgeschick, als ich meine Uhr falsch ablas und die Zwei-Uhr-Mokie-Koke irrtümlich um eins trank. Das war nicht weiter schlimm. Ich entschloß mich halt, mich für den Rest des Tages an die ungeraden Stunden zu halten statt an die geraden. Am Nachmittag war es eine Zeitlang schlimm, als man mich am Empfangstisch bis 3:14 auf ein Päckchen warten ließ, das sich verspätet hatte, aber ich kam prima über den Tag.
Dafür aber weniger prima über den Abend. Die Moke um fünf war dafür gedacht, das Ende des Arbeitstages zu feiern; das war okay. Sieben war schon schwieriger abzuwarten, aber ich zog mein Abendessen in die Länge, so gut es ging. Und dann zurück ins Zimmer, und dann, du lieber Himmel, war neun Uhr noch so lange hin! Etwa um viertel nach acht nahm ich eine Moke aus dem Sechserpack und hielt sie in meinen Händen. Ich hatte den Omni-V an, und er zeigte eines dieser gewaltigen alten historischen Epen über die Frühzeit der Postversandwerbung, aber ich folgte ihm nicht mit der rechten Aufmerksamkeit. Der Ort, wo meine Augen klebten, war die Uhr. Acht Uhr achtzehn. Acht Uhr zwanzig. Acht Uhr zweiundzwanzig... um acht Uhr fünfzig verschleierten sich meine Augen, aber ich hielt bis Punkt neun Uhr aus, bevor ich den Verschluß aufriß.
Ich süffelte sie mit Genuß leer, stolz auf die Tatsache, daß ich durchgehalten hatte.
Und dann sah ich mich der Tatsache gegenüber, daß es sechs Uhr morgens werden würde - neun lange Stunden! -, bevor ich mir wieder eine genehmigen konnte.
Das war mehr, als ich bewältigen konnte. Bis Charlie Bergholm sich seinen Weg aus der Bettbox kratzte und gähnte, um mir Platz zu machen, hatte ich ein ganz neues Sechserpack gekillt.
Die Vorlesungen begannen. Ich unternahm hin und wieder Versuche, die Mokes zu reduzieren, entschied aber, daß es das wichtigste sei, sich mit dem Rest meines Lebens zu beschäftigen. Und ein Teil meines Lebens nahm größere Bedeutung an, als ich vorhergesehen hatte.
Es ist komisch. Es scheint, als könne eine Person gerade soundsoviel Liebe und Zärtlichkeit aufbringen. Ich sagte mir, daß die Moke-Sucht eigentlich gar nicht so schlimm sei; eigentlich meine Arbeit nicht beeinträchtige; eigentlich mich bestimmt nicht weniger wert mache... und glaubte mir nicht. Je tiefer ich in meinen eigenen Augen sank, desto mehr Achtung hatte ich übrig, ohne zu wissen, wo ich sie investieren sollte. Jedenfalls nicht mehr.
Das Leben eines Diplomaten ist voller komplizierter Tabus und Leerräume. Da hockten wir auf der Venus, umgeben von achthunderttausend unversöhnlichen Gegnern. Von uns Diplomaten gab es nur hundertundacht. Was macht man unter solchen Umständen wegen Freundschaften? Mehr als das, was macht man hinsichtlich - na ja - der Liebe? Insgesamt hat man vielleicht fünfzig Kandidaten des anderen Geschlechts zur Auswahl. Vielleicht ein Dutzend davon ist verheiratet - ich meine treu verheiratet -, und ein Dutzend oder mehr ist zu alt, und ungefähr die gleiche Anzahl zu jung. Wenn man Glück hat, befinden sich gerade zehn wirklich in Frage kommende Liebhaber in der gesamten Gruppe, und wie stehen die Chancen, daß auch nur einer von diesen dich anmacht und umgekehrt von dir angemacht wird? Nicht gut. Dips leiden so sehr unter Inzucht wie die Überlebenden der Bounty auf der Insel Pitcairn. Als Mitzi Ku des Weges kam, nutzte ich mein Glück. Wir mochten einander. Wir hatten die gleichen Vorstellungen hinsichtlich Sex. Sie war eine immense Annehmlichkeit für mich und ich für sie - nicht einfach nur für den körperlichen Liebesakt, sondern für all die Paarbindungssachen, die damit einhergehen, wie Kopfkissengeplauder und daß man sich an den Geburtstag des anderen erinnerte. Es war angenehm, Mitzi für solche Dinge dazuhaben. Sie war vielleicht das wertvollste Accessoire, das die Botschaft mir bot. Ich wußte diese Annehmlichkeit zu schätzen. Wir waren höchst freimütig und unverblümt miteinander, aber es gab ein unanständiges Wort, das keiner von uns jemals dem anderen gegenüber aussprach. Das Wort war »Liebe«.
Und nun bestand keinerlei wirkliche Möglichkeit mehr für mich, es ihr zu sagen. Mitzi war so schnell aufgestiegen, wie ich gefallen war. Von einer Woche auf die andere sah ich sie nicht einmal mehr, bis auf flüchtige Blicke. Ich hatte nicht vergessen, daß sie versprochen hatte, mir einen Job als Werbetexterpraktikant bei Immaterielle Aktiva zu verschaffen. Aber ich glaubte schon, sie hätte das - bis ich Val Dambois' Mittagessen zu ihm hochbrachte und Mitzi in seinem Büro vorfand. Nicht einfach bloß dort. Kopf an Kopf mit ihm; und als ich die Tür öffnete, fuhren sie auseinander. »Verdammt, Tarb«, brüllte Dambois, »können Sie denn nicht anklopfen?«
»'tschuldigung«, zuckte ich die Achseln. Ich stellte seinen Sojaburger auf den Schreibtisch und wandte mich zum Gehen. Ich hatte kein Bedürfnis, ihr kleines Tete-a-tete zu unterbrechen... oder wenn doch, dann wollte ich es ganz bestimmt nicht zeigen. Mitzi streckte eine Hand aus, um mich aufzuhatten. Sie blickte mich mit jenem eigentümlichen, vogelartigen Interesse in ihren hellen Augen an und nickte dann.
»Val«, sagte sie, »wir können das später zu Ende bringen. Tenny? Ich denke, vielleicht sind sie jetzt bereit, bei Immaterielle Aktiva etwas für dich zu tun. Komm, ich gehe mit dir runter und sehe, was wir in die Wege leiten können.«
Es war Mittagspause, und darum mußten wir auf den Lift warten. Ich fühlte mich nervös, da ich mich nicht eben glücklich fragte, warum sie mich nicht angerufen hatte, wenn der Job sich aufgetan hatte, und ob sie sich jemals wieder daran erinnert hätte, wenn ich nicht gerade in diesem Augenblick aufgetaucht wäre. Es waren keine Gedanken, die das Ich anschwellen ließen. Ich versuchte, Konversation zu machen. »Na, wegen was habt ihr beide denn da gerade konspiriert?« fragte ich scherzhaft. Die Art, wie sie mich anblickte, ließ mich denken, daß mein Ton eine Spur zu scharf gewesen sei. Ich versuchte, es zu bemänteln. »Wahrscheinlich bin ich ein wenig angespannt«, entschuldigte ich mich, in der Annahme, daß sie das als natürlich bei einem Moke-Kopf ansehen würde. Aber das war es keineswegs. Es mag sogar Eifersucht gewesen sein. »Es kommt mir solange her vor, seit du deinen Spionagering auf der Venus geleitet hast«, sagte ich wehmütig. Was ich damit meinte, war, daß sich meine Wahrnehmungen von Mitzi seit damals erheblich verändert hatten. Sie wirkte - ich weiß auch nicht wie. Nüchterner? Freundlicher? Natürlich konnte es nicht daran liegen, daß sie sich verändert hatte. Was anders war, war, daß ich sie höher schätzte, seitdem ich sie verloren hatte.