»Das ist nur eine kleine«, sagte ich und schluckte mein erstes Schlückchen hinunter. »Ich habe große. Sehr große. Val Dambois hat versucht, mir meine Selbsthilfe-Ersatzgruppen zu stehlen, aber er hat nur einen Teil davon gekriegt.«
»Gibt's denn noch mehr?« frage sie mit einem raschen Blick auf ihre Uhr.
»Mehr? Worauf du dich verlassen kannst! Man hat es mich nie zu Ende ausarbeiten lassen. Schau, nachdem die Gruppen gebildet sind, geht jedes Mitglied los und treibt weitere Mitglieder auf. Er bekommt eine Provision für die neuen. Du wirbst zehn neue Mitglieder zu fünfzig Dollar jährlich pro Person, und du bekommst eine Provision von zehn Prozent für jeden - das bezahlt deinen Mitgliedsbeitrag.«
Sie schürzte die Lippen. »Ich vermute, das ist ein guter Weg, um zu expandieren.«
»Nicht nur, um zu expandieren! Wie rekrutiert man diese neuen Mitglieder? Du veranstaltest eine Party in deinem Condo. Lädst deine Freunde ein. Gibst ihnen zu essen und zu trinken und Partygeschenke - und wir verkaufen ihnen die Geschenke. Und dann -« ich holte tief Luft - »das Allerschönste: Das Mitglied, das neue Mitglieder anwirbt, wird befördert. Es wird Gruppenleiter, und das bedeutet, daß sein Beitrag auf fünfundsiebzig pro Jahr ansteigt. Bei zwanzig Mitgliedern wird es Sektionsleiter - Beitrag hundert. Bei dreißig ist es ein, ich weiß nicht, Erhabener Gruppengroßmeister der Thetaklasse oder so etwas. Verstehst du, wir bleiben ihnen immer einen Schritt voraus. Egal, mit wie vielen Mitgliedschaften er also hausieren geht, er bezahlt immer die Hälfte davon zurück -und wir verkaufen ihm ständig neue Waren.«
Ich lehnte mich mit meinen Kaffee zurück und beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Was immer das auch für ein Ausdruck war. Ich hatte geglaubt, es konnte Bewunderung sein, aber sicher vermochte ich das nicht zu sagen. »Tenny«, seufzte sie, »du bist verdammt noch mal durch und durch ein waschechter Werbefritze.«
Und das durchbrach die wohltrainierten Reflexe. Ich stellte die Kaffeetasse so hart ab, daß etwas von dem Kaffee auf die Untertasse überschwappte. Erneut lauschte ich den Worten die aus meinen Mund kamen, und obwohl ich nicht geplant hatte, sie zu sagen, erkannte ich sie als wahr. »Nein«, sagte ich »das bin ich nicht. So weit ich sagen kann, bin ich überhaupt kein waschechter Irgendwas. Der Grund, warum ich ins Werbegeschäft zurück möchte, ist, daß ich ein Gefühl habe, als sollte ich das wollen. Was ich wirklich will, bist nur...«
Und da hielt ich inne, weil ich Angst hatte, den Satz mit dem Wort »du« zu beenden... Und weil das andere, was ich bemerkte, war, daß meine Stimme zitterte.
»Ich wünschte«, sagte ich verzweifelt und dachte einen Augenblick lang nach, bevor ich fortfuhr: »Ich wünschte, dies wäre eine andere Welt.«
Nun, was, nehmen Sie an, meinte ich damit? Das ist keine rhetorische Frage. Ich wußte damals die Antwort darauf nicht und weiß sie auch jetzt noch nicht; mein Herz sagte etwas, über das mein Kopf noch gar nicht nachgedacht hatte. Vermutlich ist die Bedeutung der Frage nicht so wichtig. Das Gefühl war es, was zählte, und ich konnte sehen, daß es zu Mitzi durchgedrungen war. »Ach, verdammt, Tenny«, sagte sie und senkte die Augen.
Als sie sie wieder hob, blickte sie mich einen Augenblick lang forschend an, bevor sie sprach: »Weißt du«, sagte sie - merkwürdig, aber ebensosehr zu sich selbst, dachte ich, wie zu mir: »daß ich deinetwegen nachts wachliege?«
Verblüfft setzte ich an: »Ich hatte keine Ahnung...« Aber sie fuhr rasch fort.
»Es ist närrisch«, sagte sie nachdenklich. »Du bist ein Werbefritze. Sicher, du bist jetzt ganz unten, und du denkst Sachen, die du dir vor ein paar Wochen noch nicht zu denken erlaubt hättest. Aber du bist ein Werbefritze.«
Ich sagte - nicht streitlustig, sondern nur, um meine Sicht der Dinge klarzustellen: »Ich bin ein Werbefachmann, ja.« Es sah ihr gar nicht ähnlich, diese Art von Sprache zu gebrauchen.
Sie hätte es genausogut nicht gehört haben können. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, sagte mir Daddy-San immer, ich würde mich verlieben und ich würde nicht anders können, und das beste und einzige, was ich machen könnte, sei, mich von der Sorte Mann fernzuhalten, bei der ich nicht anders könnte. Ich wünschte, ich hätte auf Daddy-San gehört.«
Mein Herz schwoll in mir. Heiser rief ich: »O Mitzi!« Und griff nach ihr. Berührte sie aber nicht. Mühelos, ohne sich ein bißchen zu beeilen, stand sie auf, gerade schnell genug, daß meine hinlangenden Hände sie verfehlten, und wich zurück. »Bleib da, Tenny«, befahl sie ruhig und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Die Tür glitt hinter ihr ins Schloß. Einen Augenblick später begann die Dusche zu laufen, und da saß ich nun, studierte Mitzis komische Vorstellung von Inneneinrichtung und versuchte zu verstehen, was irgend jemand an dem Bild von der Venus an der Wand finden mochte - versuchte, einen Sinn in dem zu entdecken, was sie gesagt hatte.
Sie ließ mir eine Menge Zeit dazu. Trotzdem gelang es mir nicht, und als sie herauskam, war sie vollständig angezogen, ihr Haar war ordentlich, ihr Gesicht war ruhig und gelassen, und sie war jemand vollkommen anderes. »Tenny«, sagte sie direkt, »hör mir zu. Ich glaube, ich bin verrückt, und ich bin mir sicher, daß ich deswegen Schwierigkeiten bekommen werde. Aber trotzdem, drei Dinge:
Erstens bin ich nicht an deinen Produktideen oder deinem ConsumAnon-Schwindel interessiert. Das ist nicht die Art von Agentur, die ich betreibe.
Zweitens kann ich derzeit nicht das geringste für dich tun. Vielleicht sollte ich es nicht einmal, wenn ich könnte. Vielleicht komme ich in ein oder zwei Tagen zu Sinnen und will dich überhaupt nicht mehr sehen. Aber im Augenblick ist kein Platz für einen weiteren Werbefachmann in unserem Büro - und auch keine Zeit dafür in meinem Leben.
Drittens -« sie zögerte, zuckte dann die Achseln - »drittens könnte es später einmal etwas geben, worüber wir uns unterhalten könnten. Immaterielle Aktiva, Tenny. Politisch. Ein besonderes Projekt. So geheim, daß ich nicht einmal sagen sollte, daß es existiert. Vielleicht wird es das nie. Vor allem dann nicht, wenn wir nicht eine Menge Dinge auf die Reihe kriegen - wir brauchen sogar noch einen Ort, um es unterzubringen, außer Sicht, weil es wirklich geheim ist. Selbst dann werden wir vielleicht entscheiden, daß die Zeit noch nicht reif ist und wir jetzt sowieso noch nicht damit anfangen sollten. Hörst du, wie unsicher das alles ist, Tenn? Aber wenn es dazu kommt, dann kann ich vielleicht, nur vielleicht, einen Platz für dich darin finden. Ruf mich in einer Woche an.«
Sie schritt forsch auf mich zu. Mein Herz in den Augen, griff ich nach ihr, aber sie machte einen Ausweichschritt zur Seite, beugte sich vor, um mich keusch und bestimmt auf die Wange zu küssen, und ging dann zur Tür. »Komm nicht mit mir«, befahl sie. »Warte zehn Minuten, dann geh.«
Und fort war sie.
Obwohl jene kleinen, flachen grünen Tabletten meine Gedanken zu klären schienen, machten sie das, was ich über Mitzi zu denken versuchte, nicht im geringsten klar. Ich ließ noch einmal jedes Wort unserer Unterhaltung im Geiste Revue passieren, als ich mich auf meiner Schlafmatte herumwarf, während im selben Zimmer die Babys wimmerten und die Eltern schnarchten oder leise miteinander stritten. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Ich konnte nicht rauskriegen, was Mitzi für mich emfpand (oh, sie hatte das Wort »Liebe« nur nicht ausgesprochen - aber bestimmt hatte sie nicht so gehandelt!). Ich konnte die Mitzi, die ich so zwanglos und intim auf der Venus gekannt hatte und deren einzige Geheimnisse solche der Agentur gewesen waren, nicht mit der zunehmend geheimnisvollen und unberechenbaren auf der Erde in Einklang bringen. Ich konnte gar nichts verstehen - außer einer Sache, die in meinem Gedächtnis widerhallte. Und so beendete ich meine Schicht in der Ösenfabrik, säuberte mich gründlich, kämmte mir die Haare und fand mich in dem Glaskabäuschen am Ende der Halle ein. Semmelweiss war nicht allein. Der Mann bei ihm hielt sich wenigstens einmal in der Woche dort auf; manchmal blieb er für Stunden, ging mit ihm zum Mittagessen und kam mit diesem Drei-Martini-Torkeln zurück. Ich wußte, worüber sie sich unterhielten: nichts. Ich hustete von der Tür her und sagte: »Entschuldigen Sie, Mr. Semmelweiss.«