Das war falsch. Es war erheblich schlimmer als jede Grundausbildung. Eine Grundausbildung beginnt ihren Verarbeitungsprozeß für gewöhnlich mit einigermaßen gesundem Rohfleisch. Unter meinen Leidensgenossen war nichts dergleichen in Sicht. Sie kamen in allen Formen und Größen daher, außer gut. Da gab es eine Frau, die mehr als dreihundert Pfund wiegen mußte, und ein paar andere beiderlei Geschlechts, die vielleicht weniger wogen, das aber dadurch ausglichen, daß sie ein ganzes Stück kleiner waren, so daß sie geradezu unanständig über ihren Gürteln schwollen. Da gab es Vogelscheuchen, magerer als ich und wenigstens ebenso kaputt. Da gab es ältliche Männer und Frauen, die nicht hoffnungslos unmenschlich aussahen, außer daß sie Tics hatten, die sie nicht kontrollieren konnten - Hand an den Mund, Hand an den Mund, wieder und wieder in endlos wiederholten Gesten des Rauchens, Essens, Trinkens. Aber sie hatten nichts in der Hand. Und, ach ja, es regnete.
Die Jogger schubsten und nörgelten uns zu einer unordentlichen Art von Klumpen in der Mitte eines weiten, von niedrigen, kasernenartigen Gebäuden umgebenen Zementgevierts zusammen. Über der Tür des Gebäudes, aus dem wir gerade gekommen waren, prangte ein Schild:
Heilstätte für akut Suchtkranke
Abteilung Entgiftungsanstrengungen
Einer der Ausbilder blies dicht neben meinem rechten Ohr in eine Pfeife. Als das Geräusch aufgehört hatte, in meinem Schädel herumzuspringen, sah ich, daß eine Amazone im gleichen Jogginganzug wie die anderen, aber mit einem auf die Jacke aufgenähten goldenen Abzeichen, auf uns zustolzierte. Sie sah uns mit heftiger Gemütsbewegung an. »Gott«, bemerkte sie zu dem Irren mit der Pfeife, »sie werden jeden Monat schlimmer. Okay, ihr!« brüllte sie, während sie auf eine Kiste kletterte, um uns besser zu sehen, und ihren Befehlen mit einem Schmettern ihrer eigenen Pfeife Nachdruck verlieh, das beinahe meine Schädeldecke abtrennte und sie über die Kasernen davonwirbeln ließ. »Aufgepaßt! Seht ihr dieses Schild? "Abteilung Entgiftungsanstrengungen". Das entscheidende Wort ist Anstrengungen. Wir unternehmen Anstrengungen. Ihr werdet auch Anstrengungen unternehmen, das verspreche ich euch. Aber trotz all unserer Anstrengungen werden wir in der Regel scheitern. Die Statistiken sagen das. Von zehn von euch werden vier clean hier wieder rauskommen - und dann binnen eines Monats wieder süchtig werden. Drei werden behindernde physische oder psychoneurotische Symptome entwickeln und eine ausgedehntere Behandlung benötigen - und ausgedehnter bedeutet dabei für gewöhnlich den Rest eures Lebens, der oft kurz ist. Und zwei von euch werden nicht einmal den Kurs überstehen.« Sie grinste freundlich - ich nehme jedenfalls an, sie hielt es für freundlich. Ich war sechs Stunden über meine letzte Pille hinaus, und selbst die heilige Mutter Gottes wäre mir in diesem Augenblick nicht freundlich erschienen.
Ein erneutes zermalmendes Schmettern auf der Pfeife. Sie hatte einen Augenblick innegehalten, und sie wollte nicht, daß wir tagträumten, »Eure Behandlung«, sagte sie, »zerfällt in zwei Phasen. Die erste Phase ist die unangenehme. Da setzen wir euch nach und nach auf Minimaldosis, päppeln euch zui Erhöhung der Widerstandskraft auf, drillen euch, um die Muskelspannkraft zu entwickeln, bringen euch neue Verhaltensweisen bei, um eure Körperbewegungsmuster aufzubrechen, die eure Sucht verstärken - und ein paar andere Dinge - und das fängt jetzt an. Runter auf eure Bäuche, alle miteinander für fünfzig Liegestütz - und dann runter mit den Klamotten und unter die Duschen!«
Fünfzig Liegestütz. Wir blickten uns in jener dunklen, schwulen Dämmerung ungläubig an. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben fünfzig Liegestütz gemacht, und ich glaubte auch nicht, daß das möglich sei... bis ich herausfand, daß es keine Duschen, kein Frühstück, kein Verlassen des Exerzierplatzes - und vor allem, keine Pillen - geben würde, bis sie absolviert waren.
Es wurde möglich, sogar für die Dreihundertpfünder.
Die Dame hatte nicht gelogen. Phase Eins war unangenehm, o ja. Die einzige Methode, mit der ich mich durch jede elende Stunde zwingen konnte, war, daß ich an die gesegnete grüne Pille dachte, die am Ende des Tages wartete. Sie nahmen mir die Pillen nicht weg; sie ließen sie mich nur verdienen. Und das Scheußliche war, daß die Belohnung umso geringer ausfiel, je besser ich im Verdienen wurde. Am dritten Tag hatten sie begonnen, das Ende von den Pillen abzuschaben; am sechsten Tag schnitten sie sie halb durch. Drei von uns litten unter starker Pillensucht infolge von Mokemißbrauch. Die anderen hatten jede nur vorstellbare Sucht, Die dicke Dame, die, wie sich herausstellte, Marie hieß, war auf Junk-Food; sie schnaufte wie eine Dampforgel, wenn sie über den Hinderniskurs ging, aber sie ging - denn es führte kein anderer Weg zum Speisesaal. Ein dunkler kleiner Mann namens Jimmy Paleologue war selbst Campbell-Techniker gewesen, durch die Armee von seiner Agentur ausgeliehen, um den Maoris auf Neuseeland zivilisierte Sitten beizubringen. Er war viel zu klug, um selbst von Campbellschen Stimuli eingefangen zu werden, war aber unerklärlicherweise auf eine kostenlose Probierportion Coffiest hereingefallen. »Sie war mit einem Lotterielos gekoppelt«, erklärte er blöde, während wir auf dem schlammigen Boden lagen und zwischen Kniebeugen und Seilklettern keuchten. »Der erste Preis war eine Drei-Zimmer-Wohnung, und ich dachte daran, zu heiraten...« Zittrig und elend, am Ende eines Fünf-Kilometer-Laufes kaum noch in der Lage, sich vorwärtszuschleppen, dachte er nicht mehr daran.
Das Zentrum befand sich in einem der äußersten Vororte, einem Ort namens Rochester, und früher einmal war es ein Universitätscampus gewesen. Die Gebäude trugen noch die alten, in die Betonwände eingegrabenen Beschriftungen - Psychologisches Institut, Wirtschaftswissenschaften, Angewandte Physik und so weiter. Am Fuße des Campus leckte eine matschige Flüssigkeitsfläche, und so weit es die physikalische Umwelt anging, war das der schlimmste Teil. Sie nannten es den »Ontariosee«. Wenn der Wind von Norden kam, haute der Gestank einen um. Ein paar von den alten Gebäuden waren Kasernen, ein paar Therapieräume, ein Speisesaal, Büros; aber es gab auch einige am Rande des Campus, zu denen wir keinen Zutritt hatten. Sie waren nicht leer. Ab und zu konnten wir flüchtige Blicke auf so elende, armselige Geschöpfe wie uns selbst werfen, die hinein- und hinausgetrieben wurden, aber wer immer sie waren, wir verkehrten nicht miteinander. »Tenny«, keuchte Marie und stützte sich auf mich, als wir an ihnen zur nachmittäglichen Therapie vorüberstrebten, »was glaubst du, tun die hier drin?« Eine Frau in einem rosa Jogginganzug - sogar ihre Instruktoren unterschieden sich von unseren - lehnte sich aus der Tür eines der Gebäude, um uns anzustarren, während sie etwas in die Mülltonne warf. Als sie wieder nach drinnen ging, zog ich Marie hinüber.
»Wollen doch mal nachsehen«, sagte ich und bückte mich um, um sicherzugehen, daß kein Blauanzug in der Nähe war. Ich glaubte nicht, daß irgendwelche weggeworfenen grünen Pillen unter dem Müll sein würden, und ich bin mir sicher, daß Marie nicht erwartete, irgendwelche Extrabissen Nahrung zu finden. Zu unserer Enttäuschung behielten wir recht. Alles, was wir entdeckten, waren ein Paar goldfarbener Schühchen und eine gesprungene Spielzeugpistole mit Pseudoelfenbeingriff. Mir sagten sie nichts, aber Marie stieß ein jähes Quäken aus.
»O, mein Gott, Tenny, das sind Sammlerstücke! Meine Schwester hatte welche davon! Das hier gehört zu den authentischen Miniaturnachbildungen bronzierter Babyschuhe von Gangstern des zwanzigsten Jahrhunderts - der ist von Bugs Moran, glaube ich -, und ich bin mir fast sicher, daß das andere aus der Lerne Star Scrimshaw-Handwaffensammlung ist. Was sie da drinnen betreiben, ist Aversionstherapie - zuerst sorgen sie dafür, daß man aufhört, es zu brauchen, und dann bringen sie einen dazu, es zu hassen! Könnte das Phase Zwei sein?«