Und dann das Bellen des Instruktors hinter uns: »Na schon, ihr beiden Wandervögel, wenn ihr Zeit habt, rumzustehen und zu schwatzen, habt ihr auch Zeit für ein paar Extraliegestütz. Zeigt mir mal fünfzig, jetzt auf der Stelle. Und immer schön flink, denn ihr wißt ja wohl, was passiert, wenn ihr zu spät zur Therapie kommt!«
Wir wußten es.
Wenn ich keine Gymnastik machte oder den Kopf zurechtgerückt bekam, aß ich - alle zehn Minuten, wie es mir schien. Einfaches Essen, gesundes Essen, wie Broht und ÄchtFlaisch und Algensaft, und keine Widerrede. Ich aß meinen Teller jedesmal leer, oder es hieß, Sie haben's bestimmt schon erraten, fünfzig weitere Liegestütz zum Nachtisch. Nicht, daß fünfzig Extraliegestütz so sehr viel ausmachten. Ich machte vier- oder fünfhundert am Tag, dazu Kniebeugen und Rumpfbeugen im Stehen und im Sitzen und vierzig Runden am Tag im Schwimmbecken. Es war nur genug Platz vorhanden, daß immer drei von uns nebeneinander schwimmen konnten, und sie richteten die Vorgaben so ein, daß wir drei im Können ziemlich gleich waren - raten Sie, was der Verlierer bekam? Natürlich, was denn sonst? Die vierzig von uns verringerten sich auf einunddreißig, auf fünfundzwanzig, auf zweiundzwanzig... Die, die mich am härtesten traf, war Marie. Sie hatte tatsächlich schon an die vierzig Pfund verloren und fing gerade an, fähig zu sein, ihre »Mahlzeiten« zu essen - Vitamine und Proteinriegel, und nicht viele davon -, ohne zu wimmern, als sie am zwölften Tag beim Hinaufkrabbeln der Netze keuchte und würgte und zu Boden rollte. Sie war tot. Nicht permanent tot zwar, weil sie den Herzschocker herausrollten und sie schnellstens in einem dreirädrigen Krankenwagen mit Luftbereifung wegbrachten, aber zu tot, um in unsere Gruppe zurückzukehren.
Und die ganze Zeit über kribbelten meine Nerven im Innern meiner Haut, und was ich mehr als alles andere wollte, war, dem Medikationsbruder eins über den Schädel zu hauen, ihm seine Schlüssel wegzunehmen und in das verschlossene Schränkchen mit den langen grünen Pillen zu gelangen.
Aber ich tat es nicht.
Das Merkwürdige nämlich war, daß ich mich nach zwei Wochen, auf eine Kapsel von einem Viertel der bisherigen Stärke heruntergesetzt, wirklich ein bißchen besser zu fühlen begann. Nicht gut. Nur weniger schlecht, weniger kaputt, weniger Jesus-ich-würde-für-eine-Kaspel-töten. »Falsches Wohlbefinden«, keuchte Paleologue weise, als ich es ihm erzählte. Wir waren gerade aus dem Schwimmbecken heraus und warteten darauf, unseren Drei-Kilometer-Lauf zu beginnen. »Du erreichst diese zeitweiligen Plateaus, aber sie bedeuten nichts. Ich habe euch Campbell-Syndrom-Leute schon früher erlebt...«
Und ich lachte ihn aus. Ich wußte es besser; es war mein Körper, oder etwa nicht? Ich konnte sogar Zeit erübrigen, um an etwas außer den langen grünen Pillen zu denken - kam einmal sogar so weit wie bis zur Warteschlange an dem einen öffentlichen Telefon, mit der festen Absicht, Mitzi anzurufen.
Und das hatte ich auch, wenn mich nicht einer dieser Übelkeitsanfälle zum Gemeinschaftsabtritt getrieben hätte, und dann blieb keine Zeit mehr, noch einmal die Schlange durchzustehen.
Und zwei weitere Wochen vergingen, und das war das Ende von Phase eins. Des unangenehmen Teils.
Ich Narr. Ich hatte unseren Instruktor nicht gefragt, wie der zweite Teil sein würde. Ich hatte zum Glück hoffnungsvoll angenommen, daß, wenn Phase Eins als unangenehm beschrieben wurde, sich Phase Zwei am besten als wenigstens okay beschreiben lassen wurde.
Das war, bevor ich die Aversionstherapie und den endgültigen Entzug kennenlernte und herausfand, daß Phase zwei bestimmt nicht das war, was man unangenehm nennen würde. Sie war viel mehr als unangenehm. Der beste Ausdruck, der mir dafür einteilt, ist schlicht und einfach: die reinste Hölle.
Ich glaube, daß ich nicht mehr über Phase Zwei sprechen möchte, denn jedesmal, wenn ich das tue, fange ich an zu zittern; aber ich überstand sie. So wie die Gifte aus meinem Körper verschwanden, schienen sie auch aus meinem Kopf zu verschwinden. Als der Direktor mir die Hand schüttelte und mich in eine Rakete zurück in die Welt setzte - diesmal bei Bewußtsein -, fühlte ich mich - immer noch nicht gut - eher traurig als gut - eher wütend als traurig - aber vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben vernünftig.
Der wahre Tennison Tarb
I
In Phase Zwei verliert man die Jahreszeiten aus den Augen, weil eine so schlimm ist wie die andere. Als ich zurück in die Stadt kam, war ich überrascht, festzustellen, daß es immer noch sommerlich war, obwohl der Baum im Central Park schon angefangen hatte, sich zu verfärben. Schweiß rann den Rücken der Frau hinunter, die mein Pedicab zog. Der ohrenbetäubende Verkehrslärm aus Schreien und Schimpfen und Knirschen war unterlegt mit ihrem trockenen, geschwärzten Husten. Natürlich herrschte Smogalarm. Natürlich trug mein Kuli trotzdem kein Gesichtsfilter, weil man durch einen Filter nicht genug Luft bekommen kann, um in dichtem Verkehr seine Geschwindigkeit beizubehalten. Als wir in den Broadway einbogen, scherte direkt vor uns plötzlich ein gepanzerter Sechs-Mann-Geldtransporter einer Bank aus. Beim Versuch, ihm auszuweichen, rutschte der weibliche Kuli auf dem schmierigen Niederschlag aus, und einen Augenblick lang glaubte ich, das ganze Gespann würde umkippen. Sie wandte mir ein verängstigtes Gesicht zu. »'tschuldigung, Mister«, keuchte sie. »Diese verdammten Lastwagen geben einem keine Chance!«
»Eigentlich«, rief ich, »ist es so ein angenehmer Tag, daß ich mir sowieso überlege, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen.« Natürlich sah sie mich an, als sei ich verrückt, besonders, da ich ihr befahl, leer mit mir Schritt zu halten für den Fall, daß ich mir das mit dem Gehen doch noch anders überlegen sollte. Als ich sie am Haseldyne & Ku-Gebäude mit einem großen Trinkgeld entlohnte, war sie sicher, daß ich verrückt war. Sie konnte es gar nicht erwarten, sich davonzumachen. Aber der Schweiß auf ihrem Rücken war getrocknet, und sie hustete kaum noch.
Ich hatte so etwas noch nie vorher getan.
Ich winkte geistesabwesend den Kollegen zu, die ich erkannte, als ich das Gebäude betrat. Sie starrten mich mit unterschiedlichen Graden von Erstaunen an, aber ich war vollauf damit beschäftigt, selbst über mich erstaunt zu sein. Etwas war im Entgiftungszentrum mit mir passiert. Ich war mit mehr als den blauen Flecken von den Vitaminsprayschüssen und dem Widerwillen gegenüber länglichen grünen Pillen zurückgekehrt. Ich hatte auch ein paar neue Zubehörteile drinnen in meinem Kopf mitgebracht. Worum genau es sich dabei handelte, wußte ich noch nicht, aber eines von ihnen schien auf den Namen »Gewissen« hören zu wollen.
Als ich mein Büro betrat, machte Dixmeister so Stielaugen wie alle anderen. »Donnerwetter, Mr. Tarb«, wunderte er sich. »Sie sehen so gesund aus! Der Urlaub muß Ihnen wirklich gut bekommen sein.«
Ich nickte. Er sagte mir nur, was die Waage und der Spiegel mir schon die letzten paar Morgen gesagt hatten. Ich hatte zwanzig Pfund zugelegt. Ich zitterte nicht. Ich fühlte mich nicht einmal zittrig; sogar die Blinkwerbungen und Glitzer-Päng-Poster hatten auf dem Weg ins Büro keinerlei Sehnsüchte in mir geweckt. »Machen Sie weiter«, befahl ich ihm. »Ich muß mich bei Mitzi Ku zurückmelden, bevor ich hier übernehme.«
Das war nicht einfach. Sie war nicht da, als ich es das erste Mal versuchte. Sie war auch beim zweiten Mal nicht da, und als ich sie schließlich auf der dritten Rundwanderung zwischen ihrem Büro und meinem erwischte, war sie zwar da, aber gerade im Begriff, wegzugehen. »Mr. Haseldyne wartet«, mahnte sie ihre Sek³, aber Mitzi zögerte. Sie schloß die Tür. Wir küßten uns. Dann trat sie einen Schritt zurück.
Sie sah mich an. Ich sah sie an. Sie sagte mit nachdenklicher Überraschung zu mir: »Tenny, du siehst gut aus.«