»Theo wie?«
»… Mensch. Für ihn würde ich die Hände ins Feuer legen.« Schier untröstlich, zerrte die Kassiererin ein Tempotaschentuch hervor und betupfte die rot geweinten Augen. Von der Tatsache, dass Krokowskis Mitgefühl sich in Grenzen hielt, nahm sie dabei ebenso wenig Notiz wie von den Spuren, die ihr verlaufender Lidschatten hinterließ. »Darauf gebe ich Ihnen mein Wort, Herr Kommissar.«
»Wie heißt er, Frau Krüger?«
Aufgeschreckt durch den harschen Ton, beendete die Kassiererin ihr Lamento und senkte den Blick. »Morell!«, stieß sie schließlich hervor und fügte mit tränenerstickter Stimme an: »Theodor Morell.«
»Na also, Frau Krüger. Mehr will ich gar nicht wissen.« Krokowski, alles andere als ein emotionaler Mensch, runzelte die Stirn. Irgendwie hatte er das Gefühl, den Namen schon einmal gehört zu haben. Nur wo oder bei welcher Gelegenheit, das war die Frage. »Es sei denn, Sie hätten noch etwas hinzuzufügen.«
Mehr als Adresse und Telefonnummer Morells, die Krokowski sich umgehend notierte, sprang jedoch nicht heraus. Ergiebiger waren da schon die Angaben, die sein Gegenüber über Morells offenkundigen Intimfeind und das Betriebsklima bei seinem derzeitigen Arbeitgeber machte. Zeitungen wie diese waren ihm suspekt und das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt waren. Eine Neigung, die längst nicht alle Berliner mit ihm teilten.
»Kann ich jetzt gehen?«, schniefte die Kassiererin und hantierte umständlich an ihrem Haarband herum. »Wir sind nämlich nur zu zweit, wissen Sie.«
»Nicht, bevor wir beide einen Blick auf den Leichnam geworfen haben, Frau Krüger. Wer weiß, vielleicht können Sie sich wenigstens an die Kleidung erinnern – ohne dass wir Sie dem Anblick des Ge… Tut mir leid, aber ich kann Ihnen das nicht ersparen.«
»Wirklich nicht?«
»Bedaure, gnädige Frau.« Krokowski machte eine einladende Geste in Richtung Treppe, entsann sich seiner Brille und setzte sie wieder auf. Aus dem Inneren des Mausoleums, dessen Torflügel offenstanden, waren die Stimmen von Beamten der Spurensicherung zu hören. »Sie können sich vorstellen, dass wir für jeden Hinweis dankbar sind.«
»Gut und schön, aber wieso kommen Sie ausgerechnet auf mich?«
»Gegenfrage, Frau Krüger: Auf welche Weise gelangt man in den Park?«
»Durch den Eingang, wie denn sonst?«
»Na also.« Krokowski näherte sich der Kassiererin und geleitete sie behutsam zur Treppe. »Das heißt, das Mordopfer musste zuvor eine Karte lösen. Zumindest theoretisch. Gut möglich, dass die Dame Ihnen aufgefallen ist. Dass sie nicht allein, sondern in Begleitung war. Oder dass Sie mitbekommen haben, wie sie sich mit jemandem unterhalten hat. Jedes Detail, Frau Krüger, jede noch so banal erscheinende Kleinigkeit könnte von Bedeutung sein. Später werde ich dann auch noch ihre Kollegin befragen. Aber zuerst, gnädige Frau, sind Sie an der Reihe.«
Die Kassiererin schlug die Hände vors Gesicht, schob sie zur Seite und ließ die Fingerkuppen über die Schläfen gleiten. »Tja, wenn das so ist, Herr Kommissar, werde ich mich wohl nicht drücken können!«, antwortete sie, hakte sich bei Krokowski ein und ließ sich von ihm zum Ort des Geschehens führen.
*
»Na, der pressiert es aber!«, stellte Waldemar Naujocks, Leiter der Spurensicherung, verwundert fest, nachdem die Kassiererin einen kurzen Blick auf den Leichnam geworfen, auf dem Absatz kehrtgemacht und es plötzlich sehr eilig gehabt hatte, wieder an die Arbeit zu gehen. »Satz mit X, hab ich recht?«
Krokowski musste ihm beipflichten. Trotz allem ließ er sich jedoch nicht beirren und nahm den hoch aufgeschossenen, aus Potsdam stammenden und Anfang der Fünfziger in den Westen geflüchteten Experten in Sachen Spurensicherung beiseite, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Naujocks hörte geduldig zu, mit einem Ohr bei den Gesprächsfetzen, die aus dem Inneren des Grabmals ins Freie drangen. »Auf gut Deutsch –«, schlussfolgerte er am Ende von Krokowskis Bericht, »du glaubst, dass er es nicht nur auf die Frau abgesehen hatte.«
»Sondern auch auf Morell, du sagst es!«, bekräftigte der Kommissar, dem der Name immer noch irgendwie bekannt vorkam. »Und was ist mit euch, schon irgendeine heiße Spur?«
»Wenn du mich so fragst – nein.« Naujocks, der alles daransetzte, seinem Idol Elvis Presley möglichst ähnlich zu sehen, steckte sich eine Camel an, wobei er es sich nicht nehmen ließ, das Streichholz am Stiefelabsatz zu entzünden.
Kein Freund von Halbstarkenjacken, Jeans und Haartollen, gab sich Krokowski mit der Antwort nicht zufrieden. »Mit einem Wort: das perfekte Verbrechen«, entgegnete er und genoss es, seinen Kollegen aus der Reserve zu locken. »Dann können wir ja einpacken.«
»Das nun auch wieder nicht!«, warf Naujocks beleidigt ein und zog an seiner Zigarette. Spekulationen waren ihm ein Gräuel, aber da er nicht als Dilettant dastehen wollte, konnte er dem Drang, Krokowski Kontra zu geben, nicht widerstehen. »So doof, wie wir aussehen, sind wir nämlich nicht.«
»Hat das jemand gesagt?«
»Nein, aber angedeutet. Na schön, damit du endlich Ruhe gibst: Man kann davon ausgehen, dass die Schüsse, welche auf die Tote abgefeuert wurden, mit hoher Wahrscheinlichkeit von vorn beziehungsweise aus südlicher Richtung gekommen sind.«
»Entfernung?«
»Gute Frage«, druckste Naujocks herum. »Ich fürchte, da muss ich passen.«
Krokowski ließ jedoch nicht locker. »Was meinst du, von wo aus könnten sie abgefeuert worden sein?«
»Schwer zu sagen. Die Jungs sind gerade dabei, die Gegend zu durchkämmen.« Naujocks, Sanguiniker von hohen Gnaden, wog bedächtig das Haupt. »Mal sehen, was Peters dazu sagt.«
»Und du? Was ist mit dir? Komm schon, Waldemar, lass dir die Würmer nicht einzeln aus der Nase …«
»Wenn du mich fragst, kommt nur eine einzige Stelle in Betracht.« Naujocks setzte sich in Bewegung, steuerte auf die Freitreppe zu und bedeutete Krokowski, ihm zu folgen. »Da vorne«, fügte er an und deutete auf die Allee, die vom Mausoleum aus schnurgerade Richtung Süden verlief und auf beiden Seiten von Tannen, Buschwerk und Gestrüpp begrenzt war. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Nadelbäume entlang des Kiesweges erstrahlten in sattem Grün. An manchen Stellen waren noch Pfützen zu sehen, silbergrau schimmernd im Licht der Nachmittagssonne, die just in diesem Moment die Wolken durchbrach. Um die Postkartenidylle zu vervollkommnen, trippelte ein Eichhörnchen aus dem Unterholz, spitzte die Ohren und verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Die Szene hatte etwas Beschauliches an sich, etwas, das überhaupt nicht zu den Geschehnissen passte.
»Und die wäre?«
»Der Holzstapel da hinten. Idealer könnte die Schussposition nicht sein.« Naujocks sog an seiner Camel und sah seinen Nebenmann aus dem Augenwinkel an. »Und der Giftzwerg, mit dem du dich vorhin unterhalten hast … dieser …«
»Michalke? Sagt das Gleiche wie du«, gab Krokowski zurück, wedelte den Zigarettenrauch beiseite und folgte dem ausgestreckten Zeigefinger seines Kollegen. »80 Meter – ganz schöne Entfernung, was?«
»Mit Zielfernrohr kein Problem«, entgegnete Naujocks und nahm einen neuerlichen Zug. »Wie hat der Kerl eigentlich ausgesehen?«
»Groß, blond, um die vierzig und gut gekleidet!«, seufzte Krokowski und warf seinem Kollegen einen jener Blicke zu, die gewöhnlich dazu führten, dass seine Gesprächspartner das Rauchen einstellten. Nicht so Naujocks, der sich die Freude nicht verderben ließ. »Ich fürchte, es gibt noch viel zu tun.«
»Weißt du, was ich mich frage?«
»Nein.«
»Wie kommt jemand überhaupt dazu, einen derart brutalen Mord … wie hieß die Dame doch gleich?«
»Nettelbeck, Luise Nettelbeck.« Krokowski kramte seinen Notizblock hervor, schlug den Deckel zurück und berichtete: »Jahrgang 1918, geboren in Berlin. 1,70 Meter groß, dunkelbraune Augen, zuletzt wohnhaft in Gauting bei München. Von Beruf Sekretärin.«