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»Du bist ein Heuchler, Tom Sydow, weißt du das?«

»Und dann erst diese Testamentseröffnung«, fuhr Sydow unbeirrt fort, erleichtert über den amüsierten Tonfall in Leas Stimme. War dies der Fall, hatte er Kap Hoorn umschifft, wofür er unter den gegebenen Umständen dankbar war. »Ich denke, wir sollten ihr das ersparen.«

»Illustre Gesellschaft, muss ich schon sagen.«

»Meine Familie, meinst du?«

Die Miene von Sydows Frau entspannte sich, und obwohl sie dagegen ankämpfte, stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es war dieses Lächeln, auf das er, je länger er verheiratet war, mit umso größerer Hilflosigkeit reagierte und widerstandslos die Waffen streckte. »Nicht nur die.«

»Ach so, du meinst diese Frau.« Lea gab keine Antwort, woraus Sydow folgerte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. »Möchte wissen, wer das war.«

»Ich auch.«

»Fraglich, ob wir es je herausfinden werden!«, antwortete Sydow und machte Anstalten, aus dem Wagen zu steigen. »Ich weiß nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, sie zu kennen.«

»Kommt drauf an, wie viele Leichen du im Keller hast, mein Schatz.«

»Jede Menge, aber keine, von der du nicht weißt!«, versetzte Sydow mit einer Bestimmtheit, die seine Frau bewog, die Sache auf sich beruhen zu lassen und die Wagentür zu öffnen. »So, und jetzt komm, damit wir die Sache hinter uns bringen.«

*

Dr. Carl Malinowski, Anwalt von Tante Lu, gehörte zu den Zeitgenossen, die Sydow nicht geheuer waren. Dabei wusste er nicht einmal genau, wieso. An der Art, wie er mit ihm im Vorfeld der Bestattung umgegangen war, konnte es nicht liegen. Der Anwalt, in etwa 15 Jahre älter als er, besaß gepflegte Umgangsformen, galt als ausgewiesener Experte und stammte zudem aus der gleichen Gegend wie er. Darüber hinaus war er beredt, humorvoll und auf dem Laufenden, was seine Meriten und die Karriere bei der Berliner Kripo betraf. Entweder hatte er dies aus der Zeitung, folgerte Sydow, oder Tante Lu, berstend vor Stolz, hatte mit ihrem Lieblingsneffen geprahlt. Ein Rest von Argwohn, den Lea offenbar nicht teilte, ließ sich jedoch nicht vertreiben, weshalb Sydow sich vornahm, nichts Privates preiszugeben.

Malinowski, dem Sydows Reserviertheit nicht entgangen war, ließ es beim üblichen Small Talk bewenden und sprach ihm nochmals sein Beileid aus. Beinahe im gleichen Atemzug beauftragte er seine Sekretärin, Kaffee aufzusetzen und bat Lea und ihn in sein Büro, von wo aus sich ein ungehinderter Blick auf die Spree eröffnete. An einem Tag wie heute, wo man besser daran tat, zu Hause zu bleiben, war dieser zwar nicht viel wert. Dennoch fiel auf, dass er es hier nicht mit einem jener Hinterhofadvokaten zu tun hatte, mit denen er jahrzehntelang aneinandergeraten war. Das Büro, in dem Malinowski residierte, war geräumig, picobello aufgeräumt und verriet ein Faible des Besitzers für antikes Mobiliar, Perserteppiche und gediegene Behaglichkeit. Allein schon der Schreibsekretär, vom Eingang aus gesehen rechts postiert, musste ein Vermögen gekostet haben, und das Gleiche traf Sydows Schätzung zufolge auf eine Sitzgruppe im klassizistischen Stil und die dazu passende Vitrine mit Folianten und Vasen aus Meißener Porzellan zu. Das absolute Prunkstück des Büros, in dem man das Gefühl bekam, ein Auktionshaus zu betreten, war jedoch der Schreibtisch, der, wie Malinowski nicht ohne Stolz erklärte, dereinst zum Mobiliar des Kronprinzen gehört hatte. Die Wände, selbstredend mit Stuck versehen, und der an der Fensterfront entlanglaufende Balkon mit Aussicht auf die Spree vervollständigten den Eindruck, dass hier, in einem der wenigen unzerstörten Häuser aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, kein verkrachter Doktor der Jurisprudenz logierte.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, gnädige Frau.« Vielleicht war es die Art, wie Malinowski Lea umgarnte, die sein Unbehagen noch steigerte. Nichts gegen Höflichkeit, aber was sich der grauhaarige, gut gekleidete und offenbar auch gut situierte Experte für Erbschaftsangelegenheiten hier leistete, ging zu weit. Nicht genug, dass er ihr einen Stuhl unterschob, machte er auch noch eine Verbeugung, wartete, bis Lea es sich bequem gemacht hatte, und hing hinfort an ihren Lippen. Lea ertrug es mit Fassung, wartete ebenfalls ab, bis Malinowski hinter seinem Schreibtisch saß, und blickte Sydow auffordernd an.

Jedoch war nicht er es, der das Wort ergriff, sondern der distinguierte Herr im Tennispullover, welcher zu allem Überfluss auch noch eine Brillenkette trug. »Wie fühlen Sie sich?«

»Den Umständen entsprechend«, kam Sydow einer Antwort seiner Frau zuvor und handelte sich einen missbilligenden Seitenblick ein. Bei so etwas verstand Lea keinen Spaß, was Malinowski, dem ihr Unmut nicht entging, mit einem hintergründigen Lächeln quittierte. »Nicht weiter verwunderlich, oder?«

»Nein, keineswegs.« Der Wink mit dem Zaunpfahl zeigte Wirkung, und da der Tonfall die Musik machte, verkniff sich der Anwalt weitere Floskeln und nahm den versiegelten Umschlag zur Hand, der neben ihm auf dem blank polierten Schreibtisch lag. »Na, dann wollen wir mal!«, rief er aus, wie selbstverständlich den Blick auf Lea und erst dann auf Sydow gelenkt. »Zuvor muss ich Sie jedoch fragen, ob Sie, Herr Kriminalkommissar, das Erbe überhaupt anzunehmen gedenken.«

»Kriminalhauptkommissar.«

»Verzeihen Sie, Herr von Sydow, ich vergaß.«

»Sydow, ganz einfach Sydow.«

»Aber, aber, Herr Hauptkommissar!«, parierte Malinowski im Stil eines Oberlehrers, der einem ungebärdigen Zögling Manieren beibringt. »Wenn das Ihre Tante wüsste.«

»Finden Sie nicht, Herr Anwalt, wir sollten allmählich zur Sache kommen?«, antwortete Lea, deren Hand Sydow plötzlich auf seinem Knie spürte. »Meinem Mann ist derzeit nicht nach Scherzen zumute, wissen Sie.«

»Natürlich, gnädige Frau!«, entgegnete Malinowski verschreckt, erbrach das Siegel, mit welchem der Umschlag versehen war, und ging daran, die darin verwahrten Schriftstücke hervorzuholen. »Deshalb sind wir ja hier.«

»Sie sagen es.« Wie recht Lea doch hatte. Alles andere als entspannt, vertrieb sich Sydow die Zeit, indem er einen Blick aus dem Fenster warf. Das Wetter zeigte sich nicht von seiner besten Seite, und der Regenschleier, der über der Spree niederging, war nicht geeignet, seine Laune zu heben. An einem Tag wie heute, der eher an den April als an den bevorstehenden Sommer erinnerte, blieb man besser zu Hause, oder, falls die Umstände es erforderten, im Präsidium. Bestimmt gab es dort eine Menge zu tun, und obwohl Sydow sich dafür schämte, hätte er es vorgezogen, im Anschluss an Tante Lus Beerdigung wieder an die Arbeit zu gehen. Das Auftauchen seiner Mutter und die Testamentseröffnung hatten ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht, was bedeutete, dass er die Angelegenheit möglichst rasch hinter sich bringen musste.

Wer weiß, vielleicht tat er gut daran, hinterher noch kurz im Präsidium vorbeizuschauen. Auf einen Sprung, versteht sich, um nach dem Rechten zu sehen. Man konnte ja nie wissen, wofür das gut sein würde.

»So, was mich betrifft, wäre ich so weit.« Malinowski blickte kurz auf, zur Abwechslung einmal in Sydows Richtung, was dieser mit skeptischer Miene quittierte. »Verlieren wir also keine Zeit.«

Sydow begnügte sich mit einem Nicken.

»Gehe ich recht in der Vermutung, dass Sie bereit sind, das Erbe Ihrer Tante anzunehmen?«

Gehst du!, dachte Sydow bei sich. Wird mir ja nichts anderes übrig bleiben. Reichtümer, um es krass auszudrücken, waren ohnehin nicht zu erwarten, umso mehr, als Tante Lus Einkünfte eher bescheiden und die Kosten für das Einzimmerappartement im Pflegeheim nicht gerade niedrig gewesen waren.

»Bin ich, Herr Doktor, bin ich.«

Erfreut über so viel Wertschätzung, richtete sich Malinowski zu voller Größe auf, ließ die Fingerkuppen auf der Schreibtischkante ruhen und erläuterte: »Was jetzt kommt, werte Herrschaften, ist Teil der üblichen Prozedur. Ich bitte darum, mir dies nicht übel …«