Apropos ›untertauchen‹ – darin war sie dem Beispiel des Mannes, der ihr dabei behilflich gewesen war, gefolgt. Dazu war Eichmann, den sie am 6. April 1945 zum letzten Mal zu Gesicht bekommen hatte, allemal gut gewesen. Damals schon ein mit allen Wassern gewaschener Komödiant und Halunke, der seinesgleichen suchte. Bringt es doch tatsächlich fertig, eine Rotkreuz-Delegation durch das Lager zu führen und zu betonen, wie gut es sich unter Himmler und Konsorten dort leben ließ. Bringt es fertig, alle zum Narren zu halten, indem er eine Art ›Muster-KZ‹ schuf. An der Tatsache, dass es als Wartesaal des Todes gedient und Tausenden, Richtung Osten deportiert, zum Verhängnis geworden war, hatte dies jedoch nichts geändert. Tauchte Eichmann auf, hatten alle, das Personal mit eingeschlossen, volle Deckung genommen. Auch sie. Pech, dass sie seine Aufmerksamkeit erregt hatte, wie so viele, die blond, drall und arisch gewesen waren.
Auf die Idee, Eichmann einen Korb zu geben, war sie dennoch nie gekommen. Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um der Vorteile willen, die sich aus der Liaison ergaben. Und sie hatte, dank ihrer Abgebrühtheit, nach Kräften davon profitiert, unter anderem durch den gefälschten Pass, den er ihr besorgt hatte.
Die schlanke, hinter einer Sonnenbrille verborgene und trotz ihrer 42 Jahre nach wie vor anziehende Blondine mit den nachgezogenen Brauen, dem Bubi-Schnitt und dem Schönheitsfleck auf der mit Rouge betupften Wange beendete ihre Lektüre und hielt Ausschau nach dem Ober, um ihren Campari zu bezahlen. Dann nahm sie den Fünfmarkschein zur Hand und entschied sich, vor dem Gehen noch einen Blick in ihren Handspiegel zu werfen.
›SS-Untersturmführer Otto Eckmann‹ – zum Umfallen komisch, dachte sie beim Betrachten ihres Gesichts, wenn es nicht so makaber gewesen wäre. Fast so makaber wie die Tatsache, dass man ihr einen Pass aushändigte, der auf den Namen Helene Mertens ausgestellt war. Helene war der Name ihrer Freundin gewesen, der besten, die sie jemals gehabt hatte. Bald nach der Machtergreifung hatten sich ihre Wege getrennt, was Wunder, wenn die eine Tochter eines Spitzenbeamten und die andere der Spross eines sozialdemokratischen Parteifunktionärs war. Was aus Helene geworden war, wusste sie nicht, nur, dass sie im Mai 1942 untergetaucht war. Anders als sie, die sie als Sekretärin bei der SS angeheuert und somit auf der richtigen Seite gestanden hatte. Nun gut, ein paar Skrupel hatte sie schon gehabt. Aber, getreu der Devise, dass jeder seines Glückes Schmied ist, gottlob nicht allzu viele. Man musste zusehen, dass man auf der Seite der Sieger stand. Oder clever genug sein, um ins Lager des Gegners zu wechseln, wenn der Wind im Begriff war, sich zu drehen. Zeitlebens hatte sie versucht, diese Maxime zu beherzigen. Und war gut damit gefahren, vor allem nach dem Krieg.
»Vielen Dank, die Dame!« Der Ober und sie strahlten um die Wette. Er, weil er fast zwei Mark Trinkgeld bekommen hatte, sie, weil es ihr Vergnügen bereitete, umgarnt zu werden. Mal sehen, dachte sie, während sie ihre Zunge über die Oberlippe gleiten ließ, vielleicht werde ich nachher wiederkommen und mir nach getaner Arbeit einen Drink genehmigen. Und ein wenig herumflirten, nur zum Spaß. Männer hatten es nicht anders verdient, als an der Nase herumgeführt und so lächerlich wie möglich gemacht zu werden.
Ein Mannequin-Lächeln im Gesicht, wandte sich die Unbekannte zum Gehen und stolzierte in Richtung Rezeption, Blickfang von einem Dutzend Männern, die jeden ihrer Schritte verfolgten. Dort ließ sie sich ein Taxi rufen und flirtete mit dem Empfangschef, um sich die Zeit bis zum Aufbruch zu verkürzen.
Greta Garbo war hier gewesen, Romy Schneider, Karajan – aber heute, am Tag der Wahrheit, würde sich alles nur um sie drehen. Heute würde sie den Coup ihres Lebens landen, und niemand, am allerwenigsten einer der Lackaffen, die ihr fortwährend auf den Hintern starrten, würde sie davon abbringen. Heute war ihr Tag, der Tag, auf den sie seit Jahren hingearbeitet hatte.
Knapp zehn Minuten später und um etliche Komplimente reicher rauschte die Unbekannte ins Freie, gefolgt vom Empfangschef, der es sich nicht nehmen ließ, ihr die Wagentür aufzuhalten. Ein Lächeln, ein kleiner Scherz, und schon thronte sie auf dem Rücksitz, nannte dem Fahrer ihr Ziel, steckte sich eine Benson & Hedges an und erweckte den Anschein, als stehe es ihr zu, derart hofiert zu werden.
Doch der Schein trog. Kaum hatte sich das Taxi in Bewegung gesetzt, verschwand die einstudierte Pose und wich einem Blick, der den Fahrer bewog, sowohl Neugierde als auch Plauderlaune für den Rest der Fahrt zu unterdrücken. An Konversation, so schien es, war die Unbekannte nicht interessiert, und das traf auch auf die Sehenswürdigkeiten entlang der Route zu.
Und so kam es, dass der Mittfünfziger, der dem Klischee des schnodderigen, schwadronierenden und frei nach Schnauze parlierenden Berliners perfekt entsprach, seine Mitteilsamkeit bezähmte und den Weg zum Ernst-Reuter-Platz einschlug. Dort angekommen, bog er nach rechts, darauf bedacht, nach vorn und keinesfalls in den Rückspiegel zu schauen.
Die Frau, deren Blick er wie eine Messerspitze im Nacken spürte, wurde ihm unheimlich. So unheimlich, dass er stur geradeaus blickte.
*
Das war nicht das Berlin, wie sie es kannte, nicht mehr ihr Berlin. Die Stadt, in der sie aufgewachsen war, existierte nicht mehr, und vieles deutete darauf hin, dass es kein Zurück mehr geben würde.
Vieles, aber nicht alles.
Noch aber gab es Leute wie sie. Menschen, die sich nicht einlullen, die sich vom Ungeist, der immer mehr um sich griff, nicht in die Irre führen lassen würden. Volksgenossen, auf die Verlass war, auf die man in Zeiten wie diesen zählen konnte.
Niemand, nicht einmal dieser Wiesenthal[31], würde das Kunststück fertigbringen, sie ausfindig zu machen. Exakt 22 Jahre hatte sie in dieser Stadt verbracht, Höhen und Tiefen durchlitten, Wurzeln geschlagen. Dann aber, einem untrüglichen Instinkt folgend, hatte sie sämtliche Brücken abgebrochen und den Großteil der restlichen drei Kriegsjahre fernab der Hölle verbracht, die über Berlin hereingebrochen war. Sie, die Frau ohne Gesicht, das Phantom, an das sich kein Mensch, geschweige denn irgendein Schnüffler, erinnern würde.
Schnüffler, oder solche, die sich dazu auserkoren fühlten, in den Leichenbergen von damals zu wühlen, gab es in der Tat genug. Kaum ein Tag, an dem nicht von den Sünden der Vergangenheit gefaselt, zu Kreuze gekrochen oder das Büßergewand übergestreift wurde. Kein Tag, an dem in der Presse nicht von Eichmann und dem Exempel, das an ihm statuiert werden sollte, die Rede war. Die Unbekannte im Fond des Taxis, welches sich der Siegessäule näherte, lachte verächtlich auf. Hinterher, sinnierte sie, will es eben niemand gewesen sein. Schon gar nicht, wenn die Suche nach den Schuldigen beginnt.
»So, Gnädigste – da wären wir.« Ja, da waren sie nun. Endstation Brandenburger Tor. Circa 100 Meter von der Mauer entfernt.
»Schöne Bescherung, wa?«
»Kann man wohl sagen.«
»Wollense vielleicht aussteigen und eenen Blick von der Aussichtsplattform nach drüben …«
»Nicht nötig!«, entschied sie barsch, ein Relikt aus der Zeit, als die Häftlinge in Theresienstadt nach ihrer Pfeife tanzen mussten. »Ich habe genug gesehen.«
»Wat nu?«
Gute Frage!, dachte sie. Und höchste Zeit, Teil zwei ihres Plans in die Tat umzusetzen. »Seien Sie doch bitte so gut und fahren mich zu dieser Adresse hier!«, erwiderte sie nach längerem Nachdenken über Sinn und Unsinn ihres Vorhabens, hielt dem Fahrer einen Zettel vor die Nase und beeilte sich, ihn wieder verschwinden zu lassen.
»Jeht in Ordnung!«, antwortete der Taxifahrer und tippte an den Schirm seiner Prinz-Heinrich-Mütze, die mindestens so alt wie ihr Besitzer zu sein schien. »Is’ ja nich weit von hier.«
Nein, weit weg von hier war der Ort, an dem sie ihre Jugend verbracht hatte, ganz gewiss nicht. Direkt am Landwehrkanal, zwei Kilometer Luftlinie vom Brandenburger Tor entfernt. Sie hätte auch allein hingefunden. Falls nötig, mit verbundenen Augen.