Schon die Zweite!, stellte sie beunruhigt fest, eine Schachtel Benson & Hedges in der Hand, die normalerweise eine ganze Woche reichte. Doch dann, in Sichtweite des Großen Sterns, wo das Taxi nach links abbiegen würde, gab sie dem Verlangen nach einer weiteren Zigarette nach, zündete sie an und machte es sich auf dem Rücksitz bequem. Die Gelassenheit, welche sie sich erhofft hatte, wollte sich jedoch nicht einstellen. Im Gegenteil. Je näher dem Ziel, desto größer die Anspannung, die sich in ihr breitmachte. Eine Tatsache, die ihr zu denken gab, widerstrebte es ihr doch, wenn die Fassade, hinter die sie sich geflüchtet hatte, ins Wanken geriet.
Am Großen Stern, so ihr Eindruck, hatte sich seit damals wenig verändert. Der Verkehr war immer noch der gleiche, wenngleich sich die Fahrzeuge voneinander unterschieden. Bismarck, Roon[32] und Moltke[33] befanden sich immer noch an Ort und Stelle, als hätten die Kriege, in die ihr Vaterland verwickelt war, nie stattgefunden. ›Vaterland‹ – noch so ein Wort, das aus der Mode gekommen war. Die Unbekannte im Fond des Mercedes Benz W 121 verzog das sorgfältig geschminkte Gesicht. An die Einweihung des neu gestalteten Platzes aus Anlass von Hitlers 50. Geburtstag konnte sie sich noch sehr gut erinnern. Sie selbst war damals 19 und mit Vater, einem hohen Beamten im Reichsaußenministerium, unter den Zuschauern auf der Ehrentribüne gewesen. Doch damit nicht genug. Im Vorbeigehen hatte der Führer ein paar Worte mit ihr gewechselt. Mit ihr, der Tochter eines subalternen Beamten! Kaum vorstellbar, aber wahr. Ihr Vater, ein stockkonservativer Preuße, war davon nicht gerade angetan gewesen. Sie selbst, seit jenem Tag glühende Hitler-Verehrerin, umso mehr.
Überhaupt – der Führer. Anlass für hitzige Debatten, insbesondere mit ihrem Bruder. Was Vater betraf, hatte er sich stets herausgehalten und in diplomatischer Zurückhaltung geübt. An ihrer Treue zum Regime hatte dies jedoch nichts geändert, nicht einmal bei Kriegsende, als halb Berlin bereits in Trümmern gelegen hatte.
In jenen Tagen, als es drunter und drüber ging, hatte sie in der Tat eine Menge Glück gehabt. Mehr Glück als Verstand, um es plastisch zu formulieren. Am Tag ihrer Abreise, dem 3. Februar 1945, waren genau hier, über diesem Teil Berlins, die Schalen des Zorns ausgegossen worden. Tausende von Sprengbomben, Brandsätze und Luftminen waren vom Himmel herabgeregnet, hatten die Gegend dem Erdboden gleichgemacht, das Columbushaus am Potsdamer Platz in eine lichterloh brennende Fackel verwandelt. Sie aber hatte – wieder einmal – Glück gehabt. Nur ein paar Minuten, nur ein paar lächerliche Minuten vor Beginn des Luftalarms um 10.27 Uhr hatte ihr Zug den Anhalter Bahnhof und das Inferno, welches über Berlin hereinbrach, hinter sich gelassen. Fasziniert von dem grauenerregenden Spektakel, war sie noch lange am Fenster ihres Abteils gestanden, auch dann, als der Motorenlärm der US-Bomber und das Geräusch der Detonationen und explodierenden Minen allmählich abgeklungen war.
Wie gesagt: Sie hatte Glück gehabt. Vater und eine junge Nachbarin, der sie zum Abschied ihren Wintermantel geschenkt hatte, bedauerlicherweise nicht. Wider Willen stahl sich so etwas wie Wehmut in ihr Gesicht. Ein Luxus, den sie sich immer seltener gönnte. Pauline, so der Name ihrer Altersgenossin, hatte ihr zum Verwechseln ähnlich gesehen, und eine Zeit lang waren die Tochter eines Universitätsdozenten und sie unzertrennlich gewesen. Die Ähnlichkeit hatte immer wieder zu Verwechslungen und darüber hinaus für kompromittierende Situationen gesorgt. Sehr zum Ärger einer Reihe von Verehrern, die von ›Hanni und Nanni‹[34] an der Nase herumgeführt worden waren.
Wieder zurück in Theresienstadt, hatte sie bei ihrer Dienststelle Erkundigungen eingezogen. Das war gar nicht so einfach und vor allem zeitaufwendig gewesen, hatte ihr jedoch die Gewissheit beschert, dass Vater tot war und die stolze Besitzerin eines Wintermantels vermisst wurde, vermutlich unter den 3.000 Toten, die Opfer des amerikanischen Terrorangriffs geworden waren.
Verblüfft, um nicht zu sagen aus der Fassung gebracht, hatte sie indes etwas anderes. Verblüfft, amüsiert und wenig später sogar stimuliert. Auf den Verlustlisten, so die Auskunft, sei der Name einer gewissen Agnes von Sydow zu finden. Ihr Name. Bestimmt liege da eine Verwechslung vor, da sie, wovon sich jedermann überzeugen könne, putzmunter und am Leben sei.
Na, so putzmunter auch wieder nicht!, hatte sie in einem Anfall von grimmigem Humor, dem Markenzeichen derer von Sydow, gedacht. Dann aber, nach kurzem Nachdenken, war ihr die Tragweite der Nachricht klar geworden. Jetzt, da man sie für tot hielt, waren ihre Aktien erheblich gestiegen. Nun ja, zum Teil wenigstens, denn welche Frau in ihrem Alter sehnte sich schon nach einem Stelldichein mit den Russen. Doch wohl keine einzige. Ergo: Die Papiere, die ihr Eichmann verschafft hatte, waren so nutzlos nicht. Irgendwie, besonders in derart turbulenten Tagen, musste man sich schließlich ausweisen können. Dazu war der Fetzen, ein Produkt aus der Fälscherwerkstatt der SS, allemal gut genug.
Gut genug, weil vermögend, war auch der amerikanische Offizier gewesen, welcher ihr nach der Flucht nach Österreich über den Weg gelaufen war. Von Natur aus wählerisch, hätte sie es vorgezogen, wenn ihr Zukünftiger etwas ansehnlicher und weniger korpulent beziehungsweise nicht so einfach gestrickt gewesen wäre. Andererseits hatte John Francis Fitzpatrick, genannt ›Big Fitz‹, Helene Mertens alias Agnes von Sydow keinerlei Fragen bezüglich ihrer Vergangenheit gestellt. Die Freude über den Fang, der ihm in einem ›Displaced Persons Camp‹[35] gelungen war, hatte die Bedenken bei Weitem überwogen, und kaum war der Krieg zu Ende, hatte Big Fitz sie schon vor den Traualtar gezerrt und nach seiner Entlassung aus der Armee überredet, mit ihm in die USA zu gehen. Dass der elterliche Betrieb in La Grange/Texas auf dem flachen Land lag, von wo aus es fast 100 Meilen bis zur nächsten Stadt waren, hatte ihr Johnny-Boy geflissentlich verschwiegen. Darüber, wie über manches andere, war sie jedoch hinweggekommen. Geld roch nicht, vor allem, wenn es sich um amerikanische Dollars handelte. Dollars, über die sie nach dem Tod ihres Mannes vor zwei Monaten frei verfügen konnte.
»So, die Dame, da wären wir.« ›Dame‹ – wenn du wüsstest!, fuhr es ihr durch den Sinn, bevor sie ihr Konterfei im Rückspiegel begutachtete und entschied, den Lippenstift vor dem Aussteigen nachzuziehen. »Macht …«
»Stimmt so!«, flötete sie in einem Ton, der erfahrungsgemäß dafür sorgte, dass man ihr nicht widersprach. Dann warf sie einen abermaligen Blick in den Spiegel und nestelte so lange an der Krempe ihres Charleston-Hutes herum, bis er an der gewünschten Stelle saß. »Machen Sie sich einen schönen Tag damit.«
Nicht etwa, dass sie zur Freigebigkeit neigte. Das mit Sicherheit nicht. Zuweilen machte es ihr jedoch Spaß, die Domestiken, mit denen sie sich umgab, sprachlos zu erleben. So wie diesen Proleten, der den Mund vor Überraschung nicht mehr zubekam.
Und der ihr, nachdem sie ausgestiegen war, bestimmt hinterhergaffte. Sie war es gewohnt, genoss es, legte es darauf an.
Sie mochte es, wenn ihr die Männer, egal welchen Typs, hinterherschauten, sich an ihrer Figur weideten. Schwarz, die Farbe ihres Dior-Kostüms, war diesbezüglich von Vorteil, genau wie die Stöckelschuhe, die sie bei ihrem Zwischenstopp in Paris gekauft hatte. Adrett auszusehen hieß, dass einem die Türen offenstanden, nur darauf kam es in dieser Welt an.
»Na, dann wollen wir mal«, murmelte sie und ließ den Blick über den Platz schweifen, in dessen Zentrum sich eine parkähnliche Grünfläche befand. Bis auf zwei Häuser, einzige Überbleibsel der Bombennächte, war nichts mehr so, wie es war. Keine Trambahn, kein Herkules-Denkmal, keine Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit. Nichts. Nur noch diese beiden Häuser, zwei von einem guten Dutzend, dazu reichlich Grün und spielende Kinder. Der Rest, ihr Elternhaus inbegriffen, wie vom Erdboden verschluckt.