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Ein Lippenbekenntnis, wie nicht nur er, sondern auch Lea sehr wohl wusste. Die Dekade, während der das Unheil über Berlin hereingebrochen war, die Zeit, in der Vater und er sich auseinandergelebt hatten, die Nacht, während der er sich mit der Gestapo, der SS und so ziemlich jedem angelegt hatte, der einen Schießprügel in der Hand halten und hinter ihm herballern konnte. Er war einfach nicht imstande zu vergessen, die Erlebnisse hatten ihn geprägt, verfolgten ihn bis heute.

Und würden ihn für den Rest seines Lebens verfolgen.

»So, Tom Sydow – Zeit, sich an die Arbeit zu machen.«

Vor allem die Erinnerung an jenen Sonntag im Juni 1942, als sein Leben komplett aus den Fugen geraten war. Damals, mitten im Krieg, war er auf das Staatsgeheimnis schlechthin gestoßen. Auf den ersten Blick hatte es sich nur um ein Besprechungsprotokoll gehandelt, um eines unter vielen, die nach dem Krieg publik geworden waren. Bei näherem Hinsehen war ihm die Tragweite dessen, was er nach England geschmuggelt hatte, jedoch mehr als klar geworden. Ausgerechnet er, der 29-jährige, unerfahrene und anscheinend grenzenlos naive Beamte der Kripo Berlin, war auf das Protokoll der Konferenz am Großen Wannsee gestoßen, bei der unter dem Vorsitz eines gewissen Reinhard Heydrich[36] die Ausrottung von elf Millionen Juden beschlossen worden war. Um es abzusegnen, hatten die 15 Teilnehmer, darunter nicht weniger als sieben Akademiker, keine zwei Stunden gebraucht, insofern es überhaupt etwas abzusegnen gab. Tonangebend war vor allem Heydrich gewesen, gefolgt von seinem Adlatus, der ihm zum damaligen Zeitpunkt gänzlich unbekannt gewesen war. Dank der Tatsache, dass Eichmann mittlerweile in aller Munde war, hatte sich dies jedoch geändert. Nicht geändert respektive noch vergrößert hatte sich sein Unvermögen, die ans Licht gekommenen Details zu begreifen. Damals wie heute war Sydow vor einem Rätsel gestanden, sowohl emotional als auch rational. Wie konnte es sein, dass man sich dazu hergab, Protokoll bei einer Konferenz zu führen, die darauf abzielte, den gewaltsamen Tod von elf Millionen Menschen zu sanktionieren? Wie kam es, dass keiner der Anwesenden einen Finger gerührt hatte? Und vor allem: Wie kam es, dass Eichmann so lange unentdeckt geblieben war?

»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, Tom?«

»Natürlich, Lea, das weißt du doch.«

»Thema Nummer eins, hab ich recht?«

Sydow deutete ein Nicken an. Zwar fiel es ihm schwer, dies zuzugeben, aber wenn er zurückblickte, war die Konfrontation mit der Vergangenheit für ihn beinahe zum Lebensinhalt geworden. Manchmal, vor allem bei seiner Rückkehr nach Berlin, hätte er sich gewünscht, sie wie ein lästiges Kleidungsstück abstreifen und einfach liegen lassen zu können. Aufgrund der Erfahrungen, die er gesammelt hatte, war dies jedoch nicht möglich gewesen. Ein Großteil von Berlin war zerstört, Vater und Agnes bei einem Bombenangriff getötet, Parteigenossen, die jede Menge Dreck am Stecken hatten, in einflussreiche Positionen gehievt worden. Gerade so, als wäre nichts geschehen. Da konnte er, wollte er nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und hatte sich prompt jede Menge Probleme eingehandelt. Ärger mit Vorgesetzten, die es vorzogen, Gras über die Vergangenheit wachsen zu lassen, Schwierigkeiten mit Kollegen, bei denen sein Hang, reinen Tisch zu machen, auf Unverständnis stieß, Gesprächsstoff mit Lea, die sich allmählich Sorgen um ihn machte.

»An die Arbeit, Tom, sonst werde ich dir die Freundschaft kündigen!«

Alles, nur das bitte nicht. »Aye aye, Sir!«, flachste Sydow, verscheuchte die düsteren Gedanken und nahm sich vor, die Vergangenheit ruhen zu lassen. »Wie lauten Ihre Befehle?«

»Wir beide werden jetzt klar Schiff machen, je gründlicher, desto besser.«

»Muss das sein?«

Lea nickte und fixierte ihn mit einem Blick, der weitere Einwände im Keim erstickte. »Das bedeutet, du wirst jetzt diese Kommode durchforsten und dir dabei so viel Mühe wie möglich geben. Haben wir uns verstanden, Herr Kriminalhauptkommissar?«

»Vollkommen!«, jammerte Sydow und durchmaß Tante Lus gute Stube, in der man sich in längst vergangene Tage zurückversetzt fühlte. Eins musste man der alten Dame lassen: Hier sah es aus, als habe es die Zeit zwischen 1913, seinem Geburtsjahr, und der Gegenwart überhaupt nicht gegeben. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Porträt Hindenburgs[37], flankiert von einem Foto ihres Gatten und dem Ölgemälde, welches den Herrensitz derer von Zitzewitz zeigte. Unmittelbar daneben befand sich ein Flügel, auf dem, soweit er sich entsinnen konnte, Tante Lu allerdings nie gespielt hatte. Überhaupt war der Raum mit Schnickschnack, Nippes und Krimskrams derart vollgestopft, dass man sich kaum rühren konnte. Da war zum einen die Kommode, bei deren Anblick er sich fragte, ob es überhaupt möglich war, sie von der Stelle zu bewegen und ob er nicht besser daran täte, sie mitsamt ihrem Inhalt an einen Antiquitätenhändler zu verscherbeln. Das Gleiche galt für den mit Seidendamast bespannten Ohrensessel, auf dem die alte Dame mit Vorliebe gethront hatte, für die Standuhr in der gegenüberliegenden Ecke, den Wandschirm und vor allem für die Chaiselongue aus dunklem Leder, bei deren Anblick der Rücken schon im Voraus schmerzte. Alles, angefangen bei dem echten Perser, über die Porzellanvasen in der Vitrine, bis hin zu dem Rokoko-Tischchen, das so etwas wie ihr Heiligtum gewesen war, aber auch rein alles erinnerte an Anno Dazumal. An die Zeit vor 1914, in der die Welt angeblich noch in Ordnung gewesen war.

Sydow stieß einen Stoßseufzer aus. Dies hier war das reinste Museum, und das Einzige, was noch fehlte, war ein Schild mit der Aufschrift ›Bitte nicht berühren!‹

Am Klarschiffmachen, das verriet Leas Blick, würde jedoch kein Weg vorbeiführen. »Ach du meine Güte!«, rutschte es Sydow heraus, nachdem er einen ersten Blick in die Kommode geworfen hatte, die so voll war, dass ihm die Lust auf das Durchforsten der Schubladen verging. »Tischdecken und Gehäkeltes, so weit das Auge reicht!«

»Wie wär’s mit dem Sekretär? Wer weiß, auf welche Geheimnisse du stößt!«

»Wenn du meinst.« Um des lieben Friedens willen knöpfte sich Sydow Tante Lus Schreibsekretär vor und öffnete das oberste von zehn Schubfächern, welche das circa 100 Jahre alte Prunkstück aus Mahagoni enthielt. Zum Vorschein kamen mehrere Briefbündel, sorgsam verschnürt und nach Absendern geordnet. Sydow musste wider Willen schmunzeln. Das sah Tante Lu ähnlich, Ordnung musste eben sein.

»223.000 D-Mark auf dem Konto, Wertpapiere und sonstige Besitztümer nicht mitgerechnet«, murmelte Lea beim Durchforsten der Unterlagen, die Sydow aus den Händen von Malinowski in Empfang genommen und beharrlich ignoriert hatte. »Sieht so aus, als hätte ich eine gute Partie gemacht.«

»Lass mich bloß mit dem Papierkram in Ruhe!«, grummelte Sydow und zog das Jackett aus, welches er Lea zuliebe angezogen hatte. Dann nahm er das Bündel, das er dem Schieber entnommen hatte, genauer in Augenschein. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Da erbst du einen Haufen Geld und es interessiert dich nicht einmal. Das soll mal einer verstehen.«

»Geld allein macht nicht glücklich.«

»Bevor du mir einen Vortrag hältst, was Glück bedeutet, lass dir gesagt sein, dass …«

»Geld eine ungeheuer beruhigende Wirkung hat, ich weiß«, vollendete Sydow, was dazu führte, dass Lea überrascht aufblickte und ihren Mann prüfend ansah. Im Gegensatz zu sonst war ihm nicht nach Scherzen zumute, und die Miene, die er zur Schau trug, ließ sie die Unterlagen vergessen.

»Irgendetwas nicht in Ordnung, Tom?«

»Gute Frage.«

»Familiengeheimnisse?«

»Kann man wohl sagen!« Die Stirn in Falten, ließ es Sydow bei der knappen Antwort bewenden und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibsekretär Platz. Dann öffnete er den Umschlag, der an seine Tante adressiert war, faltete den darin befindlichen Briefbogen auseinander und begann zu lesen. Naturgemäß nahm dies geraume Zeit in Anspruch, aber Sydow schien so sehr in seine Lektüre vertieft, dass er jegliches Zeitgefühl verlor.