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»Pech, dass Morell Ihnen zuvorgekommen ist, was?«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen, Herr Kommissar.«

»Sie verlangen doch nicht, dass ich Ihnen glaube, oder?« Bebend vor Zorn, wechselte Sydow das Thema und fragte: »Und was ist mit dem Tatzeugen? Und der Kassiererin? Wollen Sie mir etwa weismachen, Sie hätten nichts mit ihrem Tod zu tun?«

»Dienstgeheimnis, Herr von Sydow.« Der Tonfall des BND-Führungsoffiziers verschärfte sich. »So, und jetzt darf ich Sie bitten, mir die Karteikarte auszuhändigen. Damit Sie möglichst schnell nach Hause kommen, Herr Kriminalhauptkommissar

»Lassen Sie meine Familie in Ruhe, sonst kriegen Sie es mit mir zu tun!«

»Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sydow? Denken Sie etwa, Sie sind etwas Besseres? Um Ihre Stieftochter freizubekommen, haben Sie nicht gezögert, Ihre Pflichten zu vernachlässigen, und jetzt kommen Sie daher und wollen mir Vorschriften machen! Finden Sie das nicht ein wenig merkwürdig, Herr Kommissar? Oder sind Sie etwa der Meinung, alles richtig gemacht zu haben? Und was diesen Morell betrifft: Wäre ich an Ihrer Stelle gewesen, hätte ich den Mann nicht mehr aus den Augen gelassen. Und was tun Sie? Sie können es gar nicht abwarten, aus dem Krankenhaus zu verschwinden. Wenn das Pflichterfüllung ist, weiß ich auch nicht mehr. Jede Münze hat zwei Seiten, jemand wie Sie müsste das eigentlich wissen.« Der BND-Agent schnappte hörbar nach Luft. »Jetzt hören Sie mal gut zu, Sydow: Wenn Sie nicht wollen, dass Ihrer Familie etwas zustößt, rücken Sie gefälligst die Karteikarte raus. Das ist mein letztes Wort, haben wir uns verstanden?«

Sydow lachte verächtlich auf. »An Ihrer Stelle, Sie Mörder, würde ich mir keine falschen Hoffnungen machen. Irgendwann kommt nämlich der Punkt, an dem Sie Farbe bekennen müssen. Unter uns: Ich kenne da ein paar Leute, die es nicht abwarten können, Ihnen ein Bein zu stellen.«

»Denken Sie, ich lasse mir drohen? Die Karteikarte, oder Sie werden sich die Radieschen von unten an…«

»Hier, nehmen Sie.« Sydow griff in die Brusttasche, förderte die Karteikarte zutage und knurrte: »Damit Sie Bescheid wissen: Es existieren mehrere Fotos davon. Bestens verwahrt, wie ich wohl nicht eigens betonen muss. Will heißen: Wenn mir, meiner Familie oder meinen Kollegen auch nur das Geringste passiert, können Sie sich auf was gefasst machen. Schönen Abend noch, und grüßen Sie mir Ihre Kameraden!«

24

Berlin-Wannsee, Sydows Haus in der Seestraße │ 23:55 h

Im Haus am Wannsee war Ruhe eingekehrt, und das einzige Geräusch war der Wind, der über die Blumenrabatten, Stauden und Hecken strich. Er umgarnte die Birken auf der Seeseite, wehte durch den nahen Laubengang und zerrte am Dach des Teepavillons. Von den Bewohnern, mittlerweile vier an der Zahl, war hingegen nur noch einer wach, froh, allein und ungestört zu sein.

Da es ihn nicht mehr am Wohnzimmerfenster hielt, hatte sich Sydow auf die Terrasse begeben. Lea war vor zehn Minuten ins Bett gegangen, Vroni kurz nach ihrem Eintreffen. Die Erlebnisse der vergangenen Tage hatten sich ihr tief eingeprägt, und es würde Zeit brauchen, bis sie wieder die Alte war.

Was seine Mutter betraf, hatte Sydow mit Engelszungen geredet, um ihren Zorn zu besänftigen. Geglückt war ihm dies zunächst mehr schlecht als recht, und wieder einmal war es Lea gewesen, der es gelang, die Wogen zu glätten. Ihr Vorschlag, sie möge die Nacht im Haus ihres Sohnes verbringen und am nächsten Morgen gemeinsam mit seiner Familie frühstücken, war dankbar angenommen worden, und es schien, als sei die Harmonie wiederhergestellt.

Das war sie freilich nicht, und niemand wusste das besser als Sydow, der auf der Terrasse hin und her stapfte, dann und wann stehen blieb und mit sorgenvoller Miene Richtung Seeufer blickte. In knapp zehn Minuten würde es zu einer Zusammenkunft kommen, um die er nicht zu beneiden war. Ein Tag, wie er turbulenter nicht hätte sein können, neigte sich dem Ende zu, und was ihn anging, war der Bedarf an unliebsamen Begegnungen gedeckt.

Ein Zurück gab es freilich nicht. Er musste den Tatsachen ins Auge sehen, so unbegreiflich sie auch erscheinen mochten. Bei der Frau, mit der er telefoniert hatte, handelte es sich um seine Schwester. Daran gab es nichts zu rütteln.

Was also tun? Was tun, wenn jemand, den man für tot hielt, urplötzlich auftauchte und ein undurchsichtiges Spiel zu spielen begann? Was, wenn es sich dabei um die eigene Schwester handelte, um jemanden, den er schon ewig nicht mehr gesehen hatte?

Sydow war wie vor den Kopf gestoßen, und es war ihm schleierhaft, was Agnes mit ihrem Vorgehen bezweckte. Er ahnte zwar, womit es zusammenhing, wehrte sich jedoch nach Kräften gegen den Verdacht, der ihn beschlich. Tatsache war, dass Agnes nichts mit ihm zu tun haben wollte, sonst hätte sie sich bei Tante Lus Beerdigung zu erkennen gegeben. Über die Gründe, weshalb sie dies unterlassen hatte, konnte man nur spekulieren, aber da sich die Dinge nun einmal so entwickelt hatten, erschien es ihm sinnlos, darüber nachzudenken.

Am Rand der Terrasse postiert, von wo aus sich einem bei Tag ein herrlicher Blick eröffnete, runzelte Sydow die Stirn und lauschte in die Dunkelheit hinein. Außer den Wellen, die sich am Bootssteg brachen, konnte er kein Geräusch ausmachen, selbst der Wind, so schien es, hielt den Atem an. »Mist, verdammter!« Sydows Unruhe, welcher er durch einen Fluch Luft verschaffte, wuchs. Langsam fragte er sich, ob es richtig war, was er da tat. Eine Frage, die er sich heute nicht zum ersten Mal stellte.

Im Begriff, seine Wanderung wieder aufzunehmen, horchte Sydow plötzlich auf. In der Ferne ertönte ein Geräusch, ähnlich dem von Motorbooten, wie es sie hier zu Dutzenden gab. Längst nicht sicher, ob es sich um die zu erwartende Person handelte, stellte er sein Martiniglas auf den Tisch und machte sich auf den Weg zum Steg. Dort eingetroffen, verspürte er ein flaues Gefühl im Magen und blickte sich nach allen Seiten um. Nichts. Sydow konnte sich eines Kopfschüttelns nicht erwehren. Dass er begann, Nerven zu zeigen, war neu für ihn. Aber es hielt ihn nicht davon ab, den Bootssteg zu betreten und der Motorjacht, deren Umrisse aus der Dunkelheit auftauchten, entgegenzugehen.

Kurz darauf, innerhalb einer Zeitspanne, die ihm länger als der abgelaufene Tag erschien, standen sich Bruder und Schwester gegenüber. Keiner der beiden sprach ein Wort, und obwohl Sydow gewusst hatte, auf was er sich einlassen würde, verharrte er auf der Stelle und starrte sein Gegenüber an.

Thomas Randolph von Sydow, Letzter seines Hauses, erschauderte. Agnes und er waren einander nie nahegestanden. Das musste man vorausschicken. Trotzdem hatte er damit gerechnet, dass so etwas wie Wiedersehensfreude aufkommen würde. Schließlich handelte es sich hier um seine Schwester, trotz allem, was man gegen sie vorbringen konnte.

Von Freude war jedoch nichts zu spüren, weder bei ihm noch bei der Frau, deren Silhouette im Licht der Deckbeleuchtung lange Schatten warf. Dementsprechend kühl fiel die Begrüßung aus, was Sydow, der vergeblich nach Worten rang, einen heftigen Stich versetzte: »Tja, so sieht man sich wieder!«, sagte die Frau, die er kaum wiedererkannte, und dachte offenbar nicht daran, die ihr dargebotene Hand zu schütteln. »Dein Haus – oder das deiner Frau?«

»Unser Haus.« Sydow lief es kalt den Rücken hinunter, und obwohl er der Letzte gewesen wäre, der dies zugegeben hätte, spürte er, wie es ihm die Kehle zuschnürte. Ohne jeden Zweifel war das hier seine Schwester, wenngleich er sich fragte, was von ihr übrig geblieben war. Schien die Frau, deren Blick ihn an Bette Davis[55] erinnerte, doch absolut nichts mit ihr gemeinsam zu haben. »Meine Frau hast du ja bereits kennengelernt.«

»Das habe ich, in der Tat.« Helen Fitzpatrick alias Agnes von Sydow zwang sich zu einem Lächeln. Und fügte süffisant hinzu: »Sie passt zu dir.«

»Wozu dieses Versteckspiel?«