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»Seit wann ist es verboten, bei der Beerdigung von Verwandten zu erscheinen?«

»Du weißt genau, was ich meine!«, grollte Sydow, im Abwehrkampf gegen den Jähzorn, der ihn unvermittelt packte. »Ich nehme an, du hast die Todesanzeige in der Zeitung gelesen. Warum greifst du dann nicht zum Hörer und rufst mich an?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Tom«, erwiderte Helen Fitzpatrick, straffte ihre dunklen Handschuhe und presste die Lippen aufeinander. »Aber ich will mal nicht so sein.« Die Frau im dunklen Kostüm lächelte. »Sagen wir mal so: Ich war neugierig.«

»Ich auch. Wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet, Agnes?« Allmählich geriet Sydow in Fahrt. »Oder glaubst du, es macht Spaß, wenn man seine Schwester für tot erklären lässt?«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Bruderherz. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Was ich tue, geht dich nichts an, hörst du?«

»Das stimmt nicht ganz, Agnes«, erwiderte Sydow mit fester Stimme. »Wenn du etwas auf dem Kerbholz hast, geht mich das sehr wohl etwas an.«

»Findest du?«, fauchte der blonde Vamp, durch dessen Haar ein kräftiger Windstoß fuhr und den Bubi-Schnitt in heillose Unordnung brachte. »Ich fürchte, da muss ich dich eines Besseren belehren.«

»Was hast du vor, Agnes, raus mit der Sprache!«

»Das geht dich nichts an, kapiert?«, schrie Helen Fitzpatrick, dem Backfisch, wie Sydow ihn kannte, auf einmal zum Verwechseln ähnlich. »Immer musst du den Polizisten spielen, du kannst gar nicht anders, oder? Damit du Bescheid weißt, Tom: Ich bin amerikanische Staatsbürgerin. Schreib’ dir das hinter die Ohren! Es geht dich einen feuchten Dreck an, womit ich mir die Zeit vertreibe, klar?«

»Aber nur, wenn du nicht gegen das Gesetz verstößt.«

»Recht, Gesetz, Ordnung!«, giftete Sydows Schwester und richtete den Blick zum Himmel. »Mein Bruderherz, wie er leibt und lebt. Kannst du mir sagen, was ich verbrochen habe? Nein? Siehst du, jetzt bist du sprachlos! Und überhaupt: Wie kommst du eigentlich auf die Idee, nach mir fahnden zu lassen? Ich habe Geschäfte zu tätigen, ist das klar? Wichtige Geschäfte. Dabei lasse ich mir nicht ins Handwerk pfuschen. Von niemandem, hörst du? Weder von dir noch von all den Witzfiguren, die sich Polizisten schimpfen!«

»›Geschäfte‹ – aha! Kann es sein, dass sie etwas mit alten Bekannten zu tun haben?«

»Und wenn schon – was kümmert’s dich!« Krebsrot vor Wut, begann die Fassade, an die sich Sydows Schwester klammerte, zu bröckeln. »Bist ja schließlich auf der richtigen Seite gewesen. Wie fühlt man sich eigentlich, wenn man Vater und Schwester im Stich lässt und nichts Besseres zu tun hat, als ins Lager des Feindes zu wechseln?« Die Augen von Helen Fitzpatrick traten aus den Höhlen, sprühten geradezu vor Hass. »Weißt du, was du bist, Tom? Ein Vaterlandsverräter! Ein elender, selbstgefälliger Vaterlandsverräter.«

»Du vergisst dich, Agnes.«

»Findest du? Wenn sich jemand vergessen hat, dann du.« Die Frau in Schwarz schäumte vor Wut. »Kaum zu glauben! Brennt mit einem Judenflittchen durch und bildet sich ein, mir Vorschriften machen zu können. Das soll mal einer verstehen. Hör zu, was ich dir jetzt sage, Herr Kriminalhauptkommissar: Wenn du denkst, ich spinne, bist du schiefgewickelt. Du wirst noch von mir hören, das garantiere ich dir. Du glaubst mir nicht? Wirst schon sehen, großer Bruder, wirst schon sehen! Ich habe Freunde, mächtige Freunde. Verbindungen, von denen du nur träumen kannst.«

»Verbindungen zum Eichmann-Syndikat?«

Sydows Schwester brach in hysterisches Gelächter aus. »Also gut, Tom, falls du es genau wissen willst: Ich habe ihn gekannt – gut gekannt, wenn du verstehst, was ich meine.«

Sydow ließ den Kopf hängen und schwieg.

»Wie dem auch sei – geschadet hat es mir nicht. Im Gegenteil.« Die Hände an der Hüfte, ließ Helen Fitzpatrick ihrem Hohn freien Lauf. »Ich habe ihn mir dienstbar gemacht, nicht umgekehrt. Und soll ich dir was sagen? Der Trottel war wie Wachs in meinen Händen.« Sydows Schwester machte einen Schritt nach vorn. »Du verstehst, was ich damit sagen will? Hüte dich davor, mir in die Quere zu kommen, Tom. Oder besser: Pass auf, dass du uns nicht in die Quere kommst. Es täte mir leid, dir eine Lektion erteilen zu müssen. Oder deiner Familie. Unter uns, Tom: Wenn du schlau bist, packst du deinen Kram und siehst zu, dass du von hier verschwindest. Wenn nicht, setzt du dein Leben aufs Spiel. Du weißt gar nicht, wie viele Leute es gibt, die bereit wären, dich zu …«

Weiter kam Helen Fitzpatrick, geborene von Sydow, nicht mehr. Bleich vor Entsetzen, fuhr ihre Hand an die Brust, während ein Schuss die nächtliche Stille durchbrach. Einen Blick im Gesicht, der zwischen Verblüffung und Zorn schwankte, geriet sie ins Taumeln, drehte sich um die eigene Achse und wich Schritt für Schritt zurück, so weit, bis sie am Ende des Bootsstegs angelangt war.

Unfähig, die Geschehnisse nachzuvollziehen, sah Sydow mit angehaltenem Atem zu. Alles wirkte so unwirklich, so entsetzlich, so widersinnig, dass er sich zunächst in einem Albtraum wähnte. Doch weit gefehlt. Die Frau, welche auf den Rand des Bootsstegs zutaumelte, war kein Hirngespinst, es war seine Schwester, ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Es war ein Geräusch, das ihn aus den Gedanken riss, ein Geräusch, das entsteht, wenn ein Körper auf dem Wasser aufschlägt. Auf einmal hellwach, streifte Sydow die Schuhe ab, riss sich das Jackett vom Leib, schnappte nach Luft, nahm Anlauf – und tauchte in die Fluten ein.

Doch er kam zu spät.

In dem Körper, den er wenige Sekunden später zu fassen bekam, steckte kaum noch Leben, und als er an die Oberfläche emportauchte, erlahmte der Griff, mit dem sich Agnes von Sydow an ihren Bruder geklammert hatte.

*

»Keine Angst, Thomas!«, sprach Abigail Wentworth mit tonloser Stimme, den Blick auf den Leichnam gerichtet, der in Sichtweite des Bootssteges auf dem Wannsee trieb. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Wellen, welchen er wieder Leben eingehaucht hatte, trieben die Tote wie Treibgut vor sich her. »Meinetwegen wirst du keine Scherereien bekommen.«

»Das war nicht mein erster Gedanke, Mutter.«

»Ich weiß, mein Sohn.« Sydows Mutter seufzte gequält auf. »Glaub mir, ich hatte keine Wahl. Wenn etwas Zeit ins Land gegangen ist, wirst du mich verstehen.«

Immer noch wie gelähmt, wandte sich Sydow ab und starrte auf den zusehends stürmischeren See hinaus. »Kannst du mir verraten, was ich jetzt …«, flüsterte er und wurde, bevor er geendet hatte, unterbrochen.

»Nichts.«

»Nichts? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, mein Sohn, dass ich umgehend die Koffer packen werde.«

»Und dann?«

»Dann werde ich schnellstmöglich nach England zurückkehren!«, versetzte die alte Dame, wandte sich ebenfalls ab und begab sich auf den Rückweg zum Ufer. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal um, den Stock in der Linken und das eisgraue Haupt in die Höhe gereckt. Und rief: »Falls du glaubst, mich wegen Mordes verhaften zu müssen, tu dir keinen Zwang an. Falls nicht, lass mich einfach meiner Wege ziehen. Du wirst mich nie mehr zu Gesicht bekommen, das verspreche ich dir!«

*

Wie lange Sydow am Rande des Bootssteges ausgeharrt hatte, wusste er hinterher nicht mehr. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er die Mordwaffe in hohem Bogen ins Wasser geschleudert und sich wegen der Dummheit, auf die er verfallen war, schwere Vorwürfe gemacht hatte. Hätte er nicht erwähnt, wo sich die Pistole befand, wäre seine Mutter nicht zur Mörderin geworden. So einfach war das.

Und so niederschmetternd.

Doch all das zählte nicht mehr. Jetzt zählte nur noch eins, nämlich das Unheil, welches ihm und seiner Familie drohte, abzuwenden.

Und so kam es, dass Tom Sydow, ehemaliger Hauptkommissar der Kripo Berlin, die Taue löste, mit denen die Motorjacht am Steg vertäut war, seine Hose auszog, an Bord kletterte, den Motor anließ und auf die Mitte des Wannsees zuhielt.