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Kurz darauf, knapp 200 Meter vom Ufer entfernt, stellte er den Motor wieder ab, holte tief Luft, trat an die Reling – und stürzte sich kopfüber in den See.

Es war nicht leicht, den Wellen zu trotzen, und es war nicht leicht, dem Leichnam auszuweichen, der urplötzlich vor ihm auftauchte. Tom Sydow musste seine ganze Kraft aufbieten, wie so häufig, wenn er mit den Unbilden des Lebens konfrontiert gewesen war. Dank seiner Zähigkeit und dem Willen, dem Tod zu trotzen, erreichte er jedoch sein Ziel. Nur noch zwei, drei Schwimmzüge, und das rettende Ufer war erreicht.

Dort brach er zusammen, und es verstrich viel Zeit, bevor er sich wieder aufrappelte.

Der Scherge und sein Henker

›Der Henker ist ein kleiner Mann von 75 Jahren, er hat einen weißen Bart und silbrige Schläfenlocken. Blut klebt am Ärmel seiner Strickjacke, Tierblut; er ist ein Schochet, ein Schächter. Strenggläubige Kranke rufen ihn, und er bringt ihnen ein Huhn oder ein Lamm, schwenkt es über ihrem Kopf, spricht einen Segen, dann schneidet er dem Tier die Kehle durch. »Es funktioniert, ich habe damit schon Sterbende und Unfruchtbare geheilt«, sagt Schalom Nagar.

In der Nacht zum 1. Juni 1962 tötete Schalom Nagar einen Menschen. Nagar zog an einem Hebel im Trakt A1, im ersten Stock des Gefängnisses von Ramla. Der Hebel löste eine Falltür aus, und einer der größten Nazi-Verbrecher der Welt fiel, an einem Strick hängend, in den Tod.

Zwei Jahre nach seiner Entführung durch den israelischen Geheimdienst aus Argentinien war Adolf Eichmann tot, der Leiter des Referats IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt, zuständig für den Transport der europäischen Juden in die Konzentrationslager.

Die Hinrichtung war ein Triumph für den noch jungen Staat Israel, im Jahr 14 seines Bestehens.

Zurück blieb Schalom Nagar, der einzige Henker Israels. Er hat stellvertretend für eine ganze Nation den Hebel gezogen. Er war es, der Eichmann vom Strick nahm. Seitdem ist Nagars Leben mit dem von Eichmann verbunden, er wird ihn nicht mehr los, diesen Deutschen, der dazu beitrug, sein Volk beinahe auszulöschen.

»Ich war damals erst 26, das war zu viel für mich«, sagt Schalom Nagar. »Ich wollte nie ein Henker sein.«‹

(Aus: Der Spiegel 17/2011, S. 136)

»Ich hatte den Gesetzen des Krieges und meiner Fahne zu gehorchen. Ich bin bereit.«

(Eichmanns letzte Worte)

Epilog

(Berlin, Ramla/Israel, Freitag, 1. Juni 1962)

25

Berlin-Wilmersdorf, Kolonie Emser Platz │ 00:02 h

Bald war es so weit. Endlich.

Er musste nur noch die Kleider wechseln, es sich auf seiner Pritsche bequem machen, den Entschluss, den er gefasst hatte, in die Tat umsetzen. Das Wenige, was zu bedenken war, war bedacht, der Brief, den er an Tom schreiben wollte, war geschrieben, die Vorkehrungen, die er hatte treffen wollen, waren getroffen worden. Im Bruchteil einer Sekunde würde es vorüber sein, das beruhigte ihn.

Er war hierher zurückgekehrt, nach all den Jahren. Jahre, in denen ihn die Vergangenheit verfolgt, bedrängt und am Ende eingeholt hatte. Bei Kriegsende war er noch voller Hoffnung gewesen, froh, die Zeit der Prüfungen hinter sich zu haben. Er hatte geglaubt, dass sich alles zum Besseren wenden würde. Beharrlich, hartnäckig, felsenfest. Und war eines Schlechteren belehrt worden.

Die Peiniger von einst, all die Menschenschinder, Schreibtischtäter und Henkersknechte – sie waren wieder da. Jeder wusste es, aber niemand sprach darüber. Sie waren wieder salonfähig geworden, jene, an deren Händen Blut klebte, an die man nicht erinnert werden wollte. Leute wie dieser Eichmann, der Mann mit dem Allerweltsgesicht, die Unscheinbarkeit in Person, der geborene Befehlsempfänger. Die Spitze des Eisberges, bei dessen Anblick man sich fragte, wie viele seines Schlages den Krieg überlebt hatten. Alle Welt hatte sich auf Hitler, Himmler, Goebbels, Heydrich, Göring und ein halbes Dutzend weiterer Schreckensgestalten konzentriert. Und vergessen, dass sie ohne die Eichmänner, welche ihnen zu Diensten gewesen waren, längst nicht so viel Schaden hätten anrichten können.

Sie waren wieder im Kommen, all jene, die es verstanden hatten, im richtigen Moment die Fronten zu wechseln. Im Herzen waren sie ihrem Führer stets treu geblieben, ungeachtet der Gräuel, die nach Kriegsende zutage gefördert worden waren. Und seine Landsleute? Die hatten mit alldem nichts zu tun, waren gezwungen gewesen, Befehlen zu gehorchen. Hatten einen Eid geschworen, Familie, Bedenken, Angst, Skrupel und tausend Gründe, ihn und seinesgleichen, welche zur Zielscheibe staatlicher Willkür geworden waren, im Stich zu lassen.

Damit war es jedoch vorbei. Unwiderruflich. Er, David Rosenzweig, hatte seine Entscheidung getroffen. Die einzig mögliche, welche ihm offenblieb. Stand doch fest, dass seine Häscher erst dann aufgeben würden, wenn sie ihn aus dem Weg geräumt hatten. Diesen Triumph wollte und würde er ihnen nicht gönnen.

Vor dem, was gleich passieren würde, war ihm nicht bange. Dank der Schmerztabletten, welche reichlich Morphium enthielten, war es ein Leichtes gewesen, einen ganz speziellen Cocktail zu mixen. Ein Gebräu, das ihm garantiert keine Qual bereiten und dafür sorgen würde, dass er sanft entschlummern würde.

Der Würfel war gefallen, egal, was danach kommen würde. Sichtlich entspannt, legte Rosenzweig seine Kleidung ab und schlüpfte in die Sträflingsmontur, welche er all die Jahre über in seinem Versteck aufbewahrt hatte. Dann heftete er den gelben Stern an die Brust, ein Relikt aus den Tagen, die er für immer überwunden zu haben glaubte.

Kurz darauf, zwei Minuten nach Mitternacht, war es vollbracht. Der Mann, welcher Theodor Morell genannt wurde, sah sich um. Gut drei auf zwei Meter, nicht viel mehr als ein Verschlag. Samt Liege, Tisch und wackligem Stuhl. Und einer Gardine, die er fest zugezogen hatte. Mit Teerpappe verkleidet, zugänglich durch eine Tapetentür.

Der Ort, an dem er sein Leben beenden würde.

Und so geschah es auch. ›Ah, tutti contenti!‹ vor sich hinsummend, nahm Rosenzweig auf seiner alten Pritsche Platz. Dann stürzte er die Mixtur, welche er hergestellt hatte, auf einen Zug hinunter, legte sich auf die Matratze und schloss die Augen.

Der Tag, an dem David Rosenzweigs Rendezvous mit dem Tod stattfand, war gerade erst angebrochen, und er war neugierig, wohin ihn sein Weg führen würde.

26

Gefängnis in Ramla/Israel │ 00.02 h

Zehn vor zwölf. Und vom Henker, auf den er treffen würde, noch nichts zu sehen.

Adolf Eichmann, Insasse von Trakt 1 im ersten Stock des Gefängnisses von Ramla, tat alles, um seine Nervosität zu verbergen. Nach über zwei Jahren in israelischem Gewahrsam und einem Prozess, der weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte, war ihm dies zur zweiten Haut geworden. Haltung bewahren, und sei es auch im Angesicht des Todes, den Kameraden, die sein Schicksal verfolgten, ein Beispiel geben, den verhassten Juden nicht die Genugtuung eines am Boden zerstörten und um Gnade winselnden SS-Obersturmbannführers verschaffen. Das hatte er sich vorgenommen. Und das hatte er dank seiner Festigkeit auch erreicht. Ein Mann seines Schlages ließ sich nicht in die Knie zwingen. Von nichts und niemandem auf der Welt.

Allen Versuchen, das Gegenteil unter Beweis zu stellen, zum Trotz.

Nicht etwa, dass die Haft spurlos an ihm vorübergegangen wäre. Tag für Tag von einem Aufpasser beobachtet zu werden, von dem ihn nur ein paar Gitterstäbe trennten, zerrte an den Nerven. Fast so sehr wie das Deckenlicht, welches während der Nacht brannte. Das Wiedersehen mit seiner Frau, von der er sich vor gut einem Monat verabschiedet hatte, nicht zu vergessen. Eine schwierige, beileibe jedoch nicht ausweglose Situation. Eichmann erhob sich und wanderte unstet hin und her. Die einzige Gefühlsregung, zu der er sich hatte hinreißen lassen, bestand darin, die Hand auf die Scheibe zu legen, die ihn von Vera trennte. Genau dorthin, wo diejenige seiner Frau ruhte. Davon abgesehen hatte er Haltung bewahrt, an seinen Memoiren geschrieben, Eingaben formuliert, sich mit Servatius, seinem Anwalt, beraten. Kühl, sachlich, unaufgeregt. Genau so, wie man es von einem SS-Offizier erwarten konnte.