Die Worte waren kaum verklungen, als er den Boden unter den Füßen verlor. Dann, Sekundenbruchteile später, straffte sich das Seil, an dem er baumelte, und er zappelte wie ein Fisch hin und her. Er schluckte, japste, keuchte, hechelte, rang nach Atem, riss vor Angst die Augen auf – und hoffte, dass der Kampf, den er ausfocht, von kurzer Dauer sein würde.
Das war er in der Tat. Nur wenige Minuten, und der Tod würde ihn ereilen. Minuten, die Eichmann, dem ein gnädigeres Schicksal als seinen Opfern zuteilwurde, indes wie eine Ewigkeit vorkamen. Und als sei dies erst der Anfang, schwand ihm plötzlich das Bewusstsein und er fand sich an einem gänzlich anderen Ort wieder, weit weg vom Block 1, in dem er sein Dasein als Gefangener gefristet hatte. An einem Ort, der ihm irgendwie bekannt, zugleich aber so unheilvoll vorkam, dass er instinktiv zurückzuweichen begann. Nichts wie weg hier!, hämmerte es ihm durch den Sinn, weg hier, solange es noch geht! Doch was er auch tat, so sehr er sich auch sträubte, widersetzte, mit Zähnen und Klauen wehrte – es gab kein Entrinnen. Er musste sich in sein Schicksal fügen.
Und so verharrte er auf der Stelle, umgeben von Gestalten, die immer näher an ihn herandrängten. Männer, Frauen, Greise und Kinder, alle, bis auf ihn, splitternackt. Eichmann rang nach verzweifelt nach Atem. Der Geruch von Schweiß, Kot, Menstruationsblut und Urin hing in der Luft, und während sich die fensterlose Kammer füllte, wurde der Mann in der SS-Uniform von Brechreiz gepackt. Da war er nun, eingekeilt zwischen teils wehklagenden, teils stumm und apathisch vor sich hinstarrenden Geschöpfen, jedes von ihnen ein Stück im Mosaik des Schreckens, das er, der Buchhalter des Todes, entworfen hatte. Allein, es sollte noch schlimmer kommen. Immer neue Schreckensgestalten drängten herzu, bleich, ausgezehrt, abgemagert bis auf die Knochen. Und dann war da plötzlich diese Stimme, laut, salbungsvoll und mit einem Schuss Ironie: »Kein Grund zur Aufregung«, tönte es über die Köpfe der Todgeweihten hinweg, »euch wird kein Haar gekrümmt werden!« Eichmann wusste es besser. Wusste, was hier und heute geschehen und die Welt, in der er lebte, für immer verändern würde.
Und dann geschah es. Ein beißender, ätzender, in Mund und Nase dringender und die Atemwege lähmender Geruch erfüllte den Raum. Panik brach aus. Panik, die auch ihn, den SS-Obersturmbannführer, erfasste. Eichmann nahm die Ellbogen zu Hilfe, drückte, schob, stieß, fluchte, was das Zeug hielt, brüllte. Vergebens. Der Weg zur Tür war ihm versperrt. Die Menschen ringsum rührten sich nicht, starr und steif wie Basaltsäulen.
Doch halt – was war das? Nach Luft hechelnd, fuhr Eichmann herum. Und wurde starr vor Schreck.
Urplötzlich, ohne dass die Tür einen Spalt weit geöffnet worden wäre, begannen sich die Reihen der Todgeweihten zu lichten. Einer nach dem anderen verschwand, verflüchtigte sich, schien sich buchstäblich in Nichts aufzulösen. Männer, Frauen, Greise, Kinder, einer nach dem anderen, einfach so.
Einer nach dem anderen, bis auf ihn, der nackt, keuchend und nach Atem ringend in der menschenleeren Gaskammer stand und den Tod, der es an diesem Tag nicht eilig hatte, mit schreckgeweitetem Blick herbeisehnte.
E N D E
Post mortem
›Noch heute beschäftigt sich der Bundestag mit dem Fall Eichmann. So diskutierte das Plenum im Januar 2011 über die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, bislang zurückgehaltene Akten des Bundesnachrichtendienstes über Adolf Eichmann teilweise offenzulegen. »Solange wir die Vergangenheit und unsere Verantwortung aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland nicht lückenlos aufarbeiten, wird uns die Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder einholen«[56], betonte der Grünen-Abgeordnete Jerzy Montag. Vergangene Woche hat das israelische Staatsarchiv zahlreiche geheime Dokumente zu Entführung und Strafverfahren Eichmanns im Internet veröffentlicht.‹
Aus: Eva Goldfuß, Im Haus der Gerechtigkeit [Das Parlament Nr. 15 / 11.4.2011 (Beilage ›Aus Politik und Zeitgeschichte‹)]
Meinungen und Kommentare
›Die amerikanischen Juden hatten zu dieser Zeit (Anfang der 50er-Jahre, Anm. d. Autors) wahrscheinlich andere Sorgen. Die Israelis hatten kein Interesse mehr an Eichmann, sie mussten sich im Überlebenskampf gegen Nasser behaupten. Die Amerikaner hatten kein Interesse mehr an Eichmann, sie mussten sich im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion behaupten. Ich hatte das Gefühl, mit einigen wenigen gleichgesinnten Narren vollkommen alleine zu sein.‹
(Aus: Simon Wiesenthal, Recht, nicht Rache, Frankfurt/M. · Berlin 1988, S. 105)
›Die traurige Wahrheit ist, dass Eichmann von einem blinden Mann entdeckt wurde, und dass der Mossad mehr als zwei Jahre benötigte, seine Geschichte überhaupt ernst zu nehmen und selbst initiativ zu werden.‹
(Aus: Zvi Aharoni/Wilhelm Dietl, Der Jäger. Operation Eichmann: Was wirklich geschah, Stuttgart 1996, S. 126 f.)
›Was die israelischen Geheimdienste betraf, so wurde Eichmann jahrelang nicht intensiv gesucht, weil unsere beschränkten Ressourcen erst einmal gegen die feindseligen Nachbarstaaten und ihre Armeen gerichtet waren. Die zweite Priorität lag bei der geheimen Organisation der Selbstverteidigung und der Auswanderung von Juden aus islamischen Staaten. Das verdrängte lange Zeit die Suche nach Kriegsverbrechern. Und dann gab es noch persönliches Versagen. Bekanntlich hatte Isser Harel angeordnet, die Akte mit Eichmanns wahrer Adresse zu schließen. Er misstraute den Angaben Lothar Herrmanns.‹
(a.a.O., S. 129)
›1957 schrieb der Rentner Lothar Herrmann, ein Jude aus Buenos Aires, dem Generalstaatsanwalt von Hessen in Frankfurt am Main, Fritz Bauer[57], dass Eichmann in Olivos, einem Vorort von Buenos Aires, in der Chacabuco-Straße 4261 lebe. Bauer gab die Information an den Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, Isser Harel, weiter. Darauf nahm ein Agent das Haus in der Chacabuco-Straße in Augenschein und meldete nach Tel Aviv, es sei unwahrscheinlich, dass Eichmann in einem solch schäbigen Bau wohne. Als sich Herrmann auch noch in Widersprüche verwickelte, verlor Harel im Herbst 1958 das Interesse an dieser Spur. Die Akte Herrmann verschwand in der Schublade. Eichmann konnte ein weiteres Jahr in Freiheit verbringen.‹
(Aus: Guido Knopp, Hitlers Helfer. Täter und Vollstrecker, München 1998, S. 71)
›In dieser Phase (April 1958, Anm. d. Autors) drängt sich durchaus der Eindruck auf, die Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden Israels, der Vereinigten Staaten und der BRD hätten nicht alles in ihrer Macht Stehende unternommen, um Eichmann zu fassen.‹
(Aus: Tom Segev, Simon Wiesenthal. Die Biographie, München 2010, S. 175)
›Es darf auch angenommen werden, dass, hätten sie dieser Aufgabe höhere Priorität beigemessen, die CIA, der deutsche Verfassungsschutz oder der israelische Mossad Eichmann ohne Weiteres hätten ausfindig machen können.‹
(a.a.O., S. 182)
›Auch wenn bis heute nur ein kleiner Teil der damals angelegten Akten bundesdeutscher Institutionen zugänglich ist, geht aus diesem Material doch hervor, dass man das Schlimmste befürchtete. Eichmann war wieder da und mit ihm mehr als ein Schatten der Vergangenheit. Zum Wurzelwerk, das sich am meisten vor dem Prozess fürchtete, gehörten all jene, die es geschafft hatten, trotz ihrer eigenen Beteiligung am Massenmord relativ unbehelligt in der Bundesrepublik anzukommen, und nun um ihre Karrieren fürchteten. Dazu gehörten die ehemaligen Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, die inzwischen Karriere bei Polizei, BKA und BND gemacht hatten, oder auch die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes.‹