Eine Hundertstelsekunde später, unter dem Eindruck der Schüsse, die wie von fern an seine Ohren drangen, brach Theodor Morells Welt endgültig zusammen. Vor Schreck wie gelähmt, wich der Boulevardreporter zurück und starrte auf die Gestalt, die, gleich einem surrealistischen Gebilde, unter dem Türsturz lag. Mit Luise, dem Nachbarskind aus Jugendtagen, hatte sie nichts mehr gemein. Ihr Kopf war förmlich explodiert, die Schädeldecke von den abgefeuerten Projektilen einfach weggerissen und in zahllose Splitter zerfetzt worden. Ringsum war der Marmorboden mit Blutspritzern übersät, vermischt mit Gehirnmasse, die aus dem offenen Schädel spritzte. Morell wollte schreien, aber alles, was er zustande brachte, war ein halblautes Gurgeln. Wollte fliehen, besaß jedoch nicht die Kraft dazu. Verdammt zum Zusehen, verharrte er auf der Stelle, wie in einem Albtraum, aus dessen Fängen er sich nicht befreien konnte.
Kurz davor, sich zu übergeben, rang der Boulevardreporter nach Luft. Kein Zweifel, dies war kein Hirngespinst, kein Trugbild, keine Ausgeburt seiner Fantasie. Dies war die Wirklichkeit, die grausame, durch nichts zu übertrumpfende, ihn wie ein Würgegriff umklammernde Wirklichkeit.
Kalkweiß im Gesicht, lauschte Morell nach draußen. Auf einmal war alles wieder so wie damals, als ihm die Peiniger dicht auf den Fersen waren. Die Beine drohten den Dienst zu versagen, das Herz hämmerte gegen die Rippen, der Atem raste, die Schläfen pochten und die Gedanken von David Emanuel Rosenzweig kreisten unentwegt um die Frage, wie lange er wohl noch zu leben haben würde.
Eine Frage, auf die er auch jetzt, 20 Jahre später, keine Antwort wusste.
4
Berlin-Tempelhof, Dorfkirche Alt-Tempelhof │ 13:20 h
Es gab drei Sorten von Menschen, auf die Tom Sydow, Hauptkommissar der Kripo Berlin, derzeit nicht gut zu sprechen war. An erster Stelle rangierten die Vopos[25], an zweiter, so merkwürdig dies auch klang, die Politiker aus Bonn und auf Platz drei Strafverteidiger und Anwälte. Besonders Letztere setzten ihm immer wieder zu, fast noch mehr als das Aktenstudium, welches ihn regelmäßig zur Verzweiflung trieb.
Was die Volkspolizisten betraf, teilte er die Antipathie, welche die Westberliner gegen sie hegten. Dass die Kollegen aus dem Osten am Mauerbau beteiligt gewesen waren, war schon schlimm genug gewesen. Darüber hinaus hatte sich einer von ihnen seine Stieftochter geangelt, nur um sie wenige Wochen nach der Hochzeit zu hintergehen. Veronika, genannt Vroni, war natürlich sofort ausgezogen, aber das änderte nichts daran, dass sie in Treptow festsaß und kein Mensch wusste, wann und wie sie wieder nach Hause in den Westen kommen würde.
Westdeutsche Politiker konnte Sydow ebenso kaum noch ertragen, vor allem nicht ihre Sonntagsreden, die zwar gut klangen, aber an dem, was Ulbricht& Co. angerichtet hatten, so gut wie nichts änderten. Da wurde über Nacht die Mauer hochgezogen, und Adenauer brauchte volle neun Tage, um seinen Hintern nach Berlin zu bewegen. Das sollte mal einer verstehen. Solidaritätsbekundungen kosteten bekanntlich nichts, aber damit, so seine Befürchtung, war es nicht getan. Um das Los der Berliner erträglicher zu gestalten, reichten Reden nicht aus, und nicht nur Sydow hätte es begrüßt, wenn den Worten endlich Taten gefolgt wären.
Mit der dritten Spezies, die Sydow auf dem Kieker hatte, den Herren Advokaten, war es seiner Meinung nach ebenfalls nicht weit her. Ein Vierteljahrhundert in Diensten der Berliner Kripo hatte eben seine Spuren hinterlassen, vor allem, was sein Vertrauen in die Redlichkeit von Anwälten betraf. Dieser Sorte Mensch war einfach nicht zu trauen, und niemand, nicht einmal sein Kollege und Freund Krokowski, hatte es geschafft, ihn von seiner Meinung abzubringen.
Was seinen Werdegang anging, hatte Sydow Höhen und Tiefen hinter sich. Der Tod seiner Verlobten, mit der er 1942 aus Deutschland geflüchtet war, hatte ihn wie kaum ein anderes Erlebnis geprägt, und er konnte von Glück sagen, dass es seine Tante gab. Wenn, dann war sie es, derentwillen er sich heute zusammengerissen und die Zurückhaltung, welche er gegenüber Geistlichen an den Tag legte, überwunden hatte.
Er hatte ihr viel zu verdanken, jener bestimmenden, zuweilen schroffen und überaus kühl und distanziert wirkenden Monarchistin aus märkischem Geblüt, deren sterbliche Überreste in dem schlichten Eichenholzsarg in unmittelbarer Nähe des Altars ruhten. Und er hatte sie, wenn schon nicht geliebt, so doch immerhin geschätzt und verehrt. Luise von Zitzewitz, geborene von Sydow und bei Kriegsende vor der Roten Armee geflüchtete Gattin eines pommerschen Rittergutsbesitzers, war zwar nicht gerade das gewesen, was man als Sanftmut in Person bezeichnete. Dennoch oder gerade deswegen war sie die Richtige gewesen, um Sydow wieder auf Vordermann zu bringen, und das, neben anderen Wohltaten, würde er ihr nie vergessen.
Es war nicht einfach, von Tante Lu Abschied zu nehmen, nicht zuletzt, weil er außer ihr keine Verwandten mehr besaß. Oder, um es akkurat auszudrücken, besessen hatte. Nun gut, da war noch seine Mutter, die hätte er um ein Haar vergessen. Da sie jedoch in London lebte und er sie seit eineinhalb Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, verband ihn kaum noch etwas mit ihr. Das hörte sich gewiss hart und herzlos an, war aber eine Folge der Familienhistorie und von der Wahrheit nicht allzu weit entfernt. Schon sehr früh, als Sydow noch die Schulbank drückte, hatte sich Abigail Wentworth, Tochter des sechsten Earl of Strafford, von seinem Vater, einem hohen Beamten im Außenministerium, scheiden lassen und war nach England zurückgekehrt. Dort hatte sie, wie viele andere auch, der Krieg zwar eingeholt. Dank außerordentlicher Zähigkeit und ihres Durchhaltevermögens hatte Mutter die Londoner Bombennächte jedoch unbeschadet überstanden.
Ein Schicksal, das dem Freiherrn Adalbert von Sydow und seiner Tochter Agnes, Sydows Schwester, nicht beschieden war. Am 3. Februar 1945, während einem verheerenden, wenn nicht gar dem verheerendsten Luftangriff des gesamten Krieges, war ihr Haus am Lützowplatz in Schutt und Asche gelegt und der Ministerialdirigent im Außenministerium mitsamt seiner Tochter im Keller verschüttet worden. Laut Aussagen von Nachbarn, bei denen Sydow nach dem Krieg Nachforschungen angestellt hatte, waren von den beiden nur noch Überreste gefunden worden. Damaligen Gepflogenheiten entsprechend waren Vater und Tochter kurz darauf in einem der zahlreichen Massengräber bestattet worden, wo genau, hatte sich nicht mit letzter Sicherheit ermitteln lassen.
Für Sydow, dem die wochenlange Suche schwer zugesetzt hatte, war dies der Tiefpunkt in einem an Widrigkeiten nicht gerade armen Jahrzehnt gewesen. Aber zum Glück gab es da noch Tante Lu, ihren unerschütterlichen Optimismus und die vielfältigen Beziehungen, welche sie zur britischen Militäradministration gepflegt hatte. Nicht zuletzt aufgrund dieser Beziehungen war Sydow schließlich wieder bei der Kripo gelandet. Angesichts der Tatsache, dass es dort von ehemaligen Parteigenossen nur so wimmelte, fast schon ein kleines Wunder. Schließlich war er nach seiner Flucht einer der meistgesuchten Regimegegner gewesen, was dem Ruf, der ihm vorauseilte, nicht gerade förderlich gewesen war.
Das Dritte Reich war mit Pauken und Trompeten untergegangen, der Geist, der in ihm geherrscht hatte, dagegen nicht. Dieser Tatsache musste man ins Auge schauen, und Sydow hegte den Verdacht, dass sie heute, 17 Jahre nach dem Krieg, nichts von ihrer Brisanz verloren hatte. Die Strippenzieher von damals waren immer noch in Amt und Würden, die Syndikate, denen sie angehörten, einflussreicher denn je.
Wie dem auch sei, Tante Lu, vor drei Tagen an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben, hatte ihren Willen bekommen. Sydow, mit 49 nicht mehr der Jüngste, hatte ihr versprechen müssen, dass sie hier, und nur hier, bestattet werden würde. Die kleine Dorfkirche, Fontane zufolge von einem Tempelritter erbaut, war Tante Lus Taufkirche gewesen. Vieles, so zum Beispiel der nahe Weiher, die von Haselnusssträuchern und Hagebutten umgebene Kirchhofsmauer und die verwitterten Grabsteine samt Veilchenteppichen, erinnerte noch an den Dichter, in dessen Epoche man sich hier automatisch zurückversetzt fühlte. Das Gleiche galt für das Innere der aus Feldsteinen erbauten Kirche, und, nicht zu vergessen, für den Flügelalter an der Wand. Kein Zweifel, dies war ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben war. Und ein Grund mehr, dem Wunsch seiner Tante zu entsprechen.