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Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, wurde 1948 durch seinen

ersten Roman »Mich wundert, daß ich so fröhlich bin« bekannt. Sein

preisgekröntes Schauspiel »Der Schulfreund«, die Romane »Das ge-heime

Brot«,

»Affäre

Nina

B.«

und

»Ich

gestehe

alles«

(Knaur-Taschenbuch Band 193) wurden außergewöhnliche Erfolge.

Verfilmt wurden seine Romane »Es muß nicht immer Kaviar sein« (Band

29), »Bis zur bitteren Neige« (Band 118), »Liebe ist nur ein Wort« (Band 145), »Gott schützt die Liebenden« (Band 234), »Lieb Vaterland magst

ruhig sein« (Band 209), »Alle Menschen werden Brüder« (Band 262),

»Und Jimmy ging zum Regenbogen« (Band 397), »Der Stoff, aus dem die

Träume sind« (Band 437) und »Die Antwort kennt nur der Wind« (Band

481). In all diesen Werken, ebenso wie auch in den späteren Romanen

»Niemand ist eine Insel« (Band 553), »Hurra - wir leben noch!« und den neu

erschienenen

Erzählungen

»Zweiundzwanzig

Zentimeter

Zärtlichkeit« hat sich Simmel als brillanter Erzähler, unerbittlicher Zeitkritiker und Künder wahrer Humanität international einen Namen gemacht. Großen Anklang fanden auch seine Kinderbücher »Ein

Autobus, groß wie die Welt«, »Meine Mutter darf es nie erfahren« und

»Weinen streng verboten«.

September 1979

Vollständige Taschenbuchausgabe

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.

München/Zürich

© Droemer Knaur Verlag Schoeller & Co., Locarno 1976

Umschlaggestaltung und Illustrationen Ulrik Schramm

Gesamtherstellung Ebner Ulm

Printed in Germany

ISBN 3-426-00643-X

Johannes Mario Simmeclass="underline"

Ein Autobus, groß wie die Welt

Ein Jugend-Roman

Droemer Knaur

Das erste Kapitel

Ein schwarzes Schaf rast durch den Schnee - 18 Kinder laufen um die Wette - Lucie muß weinen - Herr Wiedmann droht mit Ohrfeigen - Wir drehen die Zeit zurück - Der rote Autobus ist abfahrt-bereit - Der dicke Martin zeigt seine Muskeln, und Karli hat Hals-

weh - Helmut schlägt einen Ringkampf vor - Tante Beate lernt

Josef kennen - Die Fahrt geht los - Helmut ist wütend, und Josef

reißt aus - Thomas rettet die Situation - Es donnert in der Luft,

und plötzlich wird es finster - Es muß etwas Schreckliches geschehen sein.

Am 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, ra-

ste ein dickes schwarzes Schaf durch den Schnee neben

der Landstraße, die nach Bergstadt führt.

Es war gegen Mittag und sehr warm. Das Schaf rannte,

so schnell es konnte, auf den nahen Wald zu. Es war so

dick, daß es von weitem aussah wie eine große, dunkle

Kugel. Hinter ihm her liefen 18 Kinder, Buben und Mäd-

chen.

Das ist ein ungewohnlicher Anfang für eine Geschichte,

nicht wahr? Aber die Geschichte selbst ist gleichfalls un-

gewöhnlich - und deshalb muß es wohl auch ihr Anfang

sein.

Weit hinten in der langen Reihe der Kinder, die dem fet-

ten schwarzen Schaf nachliefen, stolperte ein erschöpftes

kleines Mädchen. Das kleine Mädchen weinte bitterlich

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und rief immer wieder verzweifelt: »Josef, Josef, komm

doch bitte, bitte, zurück!«

Anscheinend hieß das Schaf >Josef<, und anscheinend

gehörte es dem kleinen Mädchen. Aber es war ein eigen-

williges Schaf, und es kümmerte sich weder um die Rufe

des armen kleinen Mädchens noch um die der anderen

Kinder, die gleichfalls alle laut seinen Namen riefen.

Eine junge Frau mit freundlichem Gesicht und blondem

Haar holte das kleine Mädchen ein und nahm es an der

Hand.

»Sei ruhig, Lucie«, sagte sie. »Weine nicht. Wir werden

dein Schaf schon fangen!«

Als Lucie die freundliche junge Frau bemerkte, brach sie

neuerlich in Tränen aus.

»Oh, Tante Beate«, rief sie schluchzend, »warum hat Hel-

mut die Tür aufgemacht? Ich habe ihm gar nichts getan,

und er hat die Tür aufgemacht und Josef hinausgestoßen!

Warum, Tante Beate, warum?«

Tante Beate zog Lucie mit sich durch den tiefen Schnee

und sah nach vorne zum Waldrand, wo die anderen Kin-

der inzwischen angekommen waren. Das Schaf Josef hielt

sich hinter den ersten Bäumen verborgen. »Ich weiß nicht,

warum er es getan hat«, sagte Tante Beate. »Sicherlich

wollte er dir damit nichts Böses antun. Und bestimmt

wird er sich bei dir entschuldigen. Ich bin überzeugt, daß

es ihm schon wieder leid tut, was er angestellt hat!«

Damit eilten die beiden weiter über den Acker.

Helmut, der Junge, von dem sie gesprochen hatten, saß

zu dieser Zeit auf dem Trittbrett eines großen roten

Autobusses, der auf der Landstraße stand. Hinter dem

Lenkrad des Autobusses saß ein dicker Mann in einer

Lederjacke und mit einem roten Gesicht und sah ihn böse

an. Der dicke Mann war der Chauffeur des Autos und hieß

Wiedmann. Herr Wiedmann war wütend.

»Als ob man nicht schon genug Scherereien mit neunzehn

Kindern hätte«, sagte er zornig, »und als ob wir nicht oh-

nehin schon um eine ganze Stunde verspätet wären! Nein,

da muß noch so ein Lausbub wie du die Autotür aufma-

chen und das Schaf hinauslassen!« Helmut, der Junge,

mit dem Herr Wiedmann sprach, rutschte auf seinem

Trittbrett ein bißchen hin und her. Er fühlte sich nicht

wohl.

»Ich habe es nicht mit Absicht getan«, erklärte er unsi-

cher.

»Nicht mit Absicht! Nicht mit Absicht!« wiederholte Herr

Wiedmann ärgerlich. »Die Tür ist von selber aufgegan-

gen, was? Glaubst du, ich habe nicht gesehen, daß du die

kleine Lucie schon seit Salzburg geärgert hast?« Er stand

auf, kletterte ins Freie und kam auf Helmut zu. Helmut

war ein großer, starker Junge, der aussah, als ob er sich

vor nichts fürchten würde. Herr Wiedmann schien dabei

eine Ausnahme zu sein. Vor ihm fürchtete sich Helmut

jetzt ein wenig. Er zog den Kopf zwischen die Schultern

und schielte ängstlich nach oben, als er den Chauffeur sa-

gen hörte: »Bei Gott, wenn ich nicht wüßte, daß man

Kinder nicht schlagen soll, dann würde ich dir jetzt ein

paar Ohrfeigen geben, daß du die Engel singen hörst,

mein Lieber!«

Helmut schwieg und sah ihn an. Herr Wiedmann

brummte böse und drehte ihm den Rücken zu. Er sah

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über den tief verschneiten Acker zum Waldrand hinüber,

in dessen Schatten 18 Kinder und Tante Beate noch im-

mer mit Bitten und Locken und Betteln versuchten, das

Schaf Josef zu bewegen, zu ihnen zurückzukehren.

Die ganze Situation war sehr sonderbar, findet ihr nicht?

Wie kam der rote Autobus hierher, auf die Landstraße,

viele Kilometer entfernt vom nächsten Dorf? Wer war

Tante Beate? Und wer waren die 19 Kinder? Woher ka-

men sie? Wohin fuhren sie? Wieso besaß Lucie ein

schwarzes Schaf namens Josef? Und warum hatte Helmut

es aus dem Autobus gestoßen? Das sind eine ganze Men-

ge Fragen, und es lassen sich bestimmt noch ein paar wei-

tere finden. Und um sie alle beantworten und unsere

Geschichte so weitererzählen zu können, daß alle sie ver-

stehen, müssen wir ein bißchen zurückgreifen und uns an

Dinge erinnern, die schon hinter uns liegen. Um zu wis-

sen, wohin der Autobus fährt, müssen wir wissen, woher

er kommt. Wir müssen zurückkehren nach Salzburg. Und

wir müssen die Zeit zurückdrehen von 2 Uhr nachmittag

(so spät ist es jetzt) auf 8 Uhr früh. (So spät war es, als

alles begann.)