Sie waren alle mit dem armen kranken Karli zusammen
gewesen, und deshalb waren sie auch alle in Gefahr, sich
angesteckt zu haben. Sogar Tante Beate und Herr Wied-
mann hatten schon ihre Spritze in den linken Oberarm
bekommen.
Vor dem Polizeiauto fuhr eine große Schneefräse der
Feuerwehr. Sie sollte später eingesetzt werden, um die
verschüttete Straße freizuschaufeln. Vorläufig hatte sie
noch nichts zu tun. Gegen halb acht erreichten sie das ein-
same Haus an der Straße, in dem der alte Mann wohnte.
Das Polizeiauto hielt, und der Arzt mit der großen Ta-
sche ging durch den Schnee auf das Haus zu. Herr Wied-
mann folgte ihm und klopfte an die Tür.
Von drinnen ertönte eine unwillige Stimme. Dann wurde
die Tür aufgesperrt, und der ungekämmte Kopf des alten
Mannes erschien. Als er Herrn Wiedmann erblickte,
machte er ein wütendes Gesicht. »Verflixt noch einmal«,
rief er aufgebracht, »werde ich heute überhaupt nicht
mehr schlafen können?«
»Wir gehen gleich wieder«, versprach der Chauffeur.
»Warum seid ihr überhaupt gekommen?« fragte der alte
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Mann. Er öffnete die Tür ein wenig weiter, und man sah,
daß er ein langes Nachthemd anhatte und an den Füßen
Pantoffeln trug.
»Um Ihnen eine Spritze zu geben«, sagte der Arzt.
»Das auch noch«, sagte der alte Mann.
»Es ist notwendig«, erklärte Herr Wiedmann.
»Klar ist es notwendig«, sagte der alte Mann. »Glauben
Sie, ich will Diphtherie kriegen? Kommen Sie herein!«
Er ging voraus in die große Stube und legte sich dort auf
ein Bett. Nachdem er den einen Ärmel seines Nachthem-
des zurückgeschoben hatte, sagte er: »Na los, beeilen Sie
sich!«
Der Arzt hatte seine Tasche geöffnet und eine Injektions-
spritze gefüllt. Jetzt trat er zum Bett. Der alte Mann
schloß die Augen. »Ich kann kein Blut sehen!« behaup-
tete er.
Aber es war gar kein Blut zu sehen, nicht ein einziger
Tropfen, der Arzt war sehr geschickt und schnell. Er
klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle und sagte: »So,
jetzt kann Ihnen nichts passieren!«
»Danke«, sagte der alte Mann und drehte sich zur Wand.
»Und gute Nacht!«
»Guten Morgen, meinen Sie«, sagte der Arzt.
»Ich meine gute Nacht!« brummte der alte Mann. Und als
die beiden anderen lachten und von ihm fortgingen,
schrie er ihnen noch nach: »Machen Sie die Tür gut
zu!«
Der Arzt trat als erster ins Freie. Herr Wiedmann folgte
und wollte gerade, wie der alte Mann ihn gebeten hatte,
die Tür schließen, als sie ihm durch eine unsichtbare Ge-
walt aus der Hand gerissen wurde. Die Tür flog wieder
auf, und Herr Wiedmann wurde gegen ihr Holz gewor-
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fen. Er sah, wie die Polizisten und Tante Beate eilig von
ihrem Wagen sprangen und auf ihn zu rannten und wie
der große Schneepflug der Feuerwehr plötzlich einen Bo-
gen beschrieb und in das verschneite Feld am Straßen-
rand hineinfuhr. Dann erfüllte ein Donnern und Getöse
die Luft, das er schon kannte. Der Boden bebte, Schnee
erfüllte die Luft, ein Sturmwind flog über das Haus hin,
und Herr Wiedmann wußte: Irgendwo jn der Nähe war
noch eine Lawine niedergegangen.
Gleich darauf wurde es wieder still, die Sonne schien wei-
ter, die Polizisten sahen einander schwer atmend an und
schwiegen.
Der erste, der sprach, war der alte Mann aus seinem Bett.
Er schien überhaupt nicht begriffen zu haben, was ge-
schehen war, denn er sagte nur böse: »Wollen Sie nicht
gefälligst die Tür zumachen?«
Helmut ging ein paar Minuten früher noch pfeifend über
ein tiefverschneites Stück baumloses Land am Fuß eines
Berghanges. Die Spuren von Herrn Wiedmann und von
Tante Beate leiteten ihn. Er pfiff vor sich hin. Jetzt wird
es nicht mehr lange dauern, dachte er, und ich kann damit
beginnen, wieder parallel zur Straße zu gehen. Und in ein
paar Stunden bin ich am Ziel!
Er sah zur Sonne empor, dachte, daß es wahrscheinlich
erst halb acht oder acht Uhr war, und beschloß, ein wenig
zu rasten. Er hatte es verdient! Er war sehr weit gekom-
men.
Helmut setzte sich auf einen Stein, der aus dem Schnee
ragte, griff in die Tasche und zog ein Stück Schokolade
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heraus. Er hatte eben das erste Stück von der Rippe abge-
bissen, als er ein leises Sausen hörte und aufsah. Er
konnte nicht feststellen, woher das Sausen kam, obwohl
er überallhin blickte. Die Berghänge lagen still und fried-
lich im Sonnenschein. Aber das Sausen wurde lauter. Hel-
mut sprang auf. Er fühlte sich sehr unheimlich. Und
dann, plötzlich, sah er, was geschehen war und woher das
schreckliche Geräusch stammte.
Auf dem Berghang gegenüber war eine ganze große
Schneefläche ins Rutschen gekommen und glitt zu Tal. Es
sah aus, als käme ein riesengroßes weißes Tischtuch her-
unter. Helmut starrte es gebannt an.
Das Tischtuch richtete sich plötzlich auf, erhob sich in die
Luft und schien den halben Berg mit sich zu reißen. Ein
paar einsame Bäume kamen ihm in den Weg. Die Bäume
verschwanden in einer weißen Wolke, und als sie vorüber
war, waren auch die Bäume verschwunden! Und eine rie-
sige weiße Masse, in die das >Tischtuch< sich verwandelt
hatte, stürzte weiter bergab.
Das Sausen war in Donnern übergegangen.
Helmut schluckte mühsam. Er begriff, daß diese ganze
grauenhaft große Schneemasse, die da in Bewegung ge-
raten war, sich auf ihn zu bewegte, in das Tal, in dem er
selber sich befand. Er stand wie angenagelt. Er konnte
keinen klaren Gedanken fassen. Was sollte er tun? Wo-
hin sollte er flüchten, wo sich verstecken?
Die Lawine hatte die Baumgrenze erreicht und riß weitere
Bäume mit auf ihrem Weg zu Tal. Helmut ließ die Scho-
kolade fallen und rannte, so schnell er in dem hohen
Schnee konnte, weiter geradeaus. Er stolperte, fiel, erhob
sich wieder, er hatte den Mund und die Augen voll
Schnee, er bekam keine Luft mehr, er rang nach Atem,
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und immer noch rannte er, rannte er, rannte er um sein
Leben. Ein Sturmwind erhob sich, es wurde dunkel, und
dichter Schneestaub erfüllte die Luft.
Das alles spielte sich viel schneller ab, als wir es hier er-
zählen können. Es dauerte nur einige wenige Augen-
blicke, bis eine mächtige unsichtbare Hand ihn am Kragen
packte und in die Luft hob. Es klingt unglaublich, wenn
man es liest, aber so war es: Helmut flog plötzlich durch
die Gegend. Er flog nicht lange, und er flog nicht weit,
aber er flog!
Die Lawine donnerte in das stille Tal, und eine riesenhaf-
te Schneewolke stieg auf. An ihrem Rande stürzte Hel-
mut schwer zu Boden und blieb liegen. Schnee stäubte
auf ihn und deckte ihn zu. Er lag auf dem Gesicht und
wußte von alldem schon nichts mehr.
Die Kinder im Autobus hörten gleichfalls das Donnern
der Lawine, aber sie konnten sie nicht sehen-der Berg-
hang, an dem der Autobus festgefahren war, lag dazwi-
schen. Deshalb erschraken sie auch nicht so sehr wie am
Tag vorher, als sie das Unheil hatten kommen sehen.
Aber angenehm war keinem von ihnen zumute.
»Glaubst du, daß die Lawine wieder auf die Straße
niedergegangen ist?« fragte Hanna mit weinerlicher
Stimme den dicken Martin. Sie waren, als sie das Don-
nern hörten, noch beim Frühstück gesessen, das sie aus
den Resten der noch genießbaren Vorräte hergerichtet
hatten, aber den meisten war nun der Appetit vergangen.