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  Ein dünner und ausgemergelter Andrew Carter schilderte auf anrührende Weise, wie er in der Mordnacht gezwungenerweise seine wahre Identität preisgegeben und darum gebettelt hatte, wenigstens einen Teil seines Geldes, das rechtlich und moralisch ihm gehörte, zu bekommen. Sein Flehen hatte allerdings zu nichts geführt. Craigie, so erzählte er dem Gericht, hätte ihm nur ins Gesicht gelacht.

  Carters Anwalt, der brillante Gérard Malloy-Malloy, ging in einem umwerfenden Abschlußplädoyer ausführlich auf den Charakter des verstorbenen Betrügers ein. Minutiös und akribisch genau trug er die ganze Liste herzloser Gaunereien und Betrügereien vor. Am Ende wunderten sich seine Zuhörer nicht mehr über Craigies Ermordung, sondern nur noch darüber, warum das nicht schon früher geschehen war.

  Mit seiner Weigerung, sich für den Mord an Timothy Riley schuldig zu bekennen, kam Carter durch. Da Felicity seit Jahren instabil war, Drogen genommen und an besagtem Abend einen Schlaftrunk verabreicht bekommen hatte, ehe sie Carter anscheinend dabei beobachtet hatte, wie er Riley aus dem Zimmer lockte, wurde sie als unzuverlässige Zeugin betrachtet. In Windeseile gelang es dem Anwalt, sie zum Weinen zu bringen und bei ihr Zweifel an der eigenen Aussage zu säen. Die vielen Fingerabdrücke belegten nur, daß beide Männer das Radkreuz in der Hand gehalten hatten.

  Für Rileys gefährlich aggressives und gewalttätiges Verhalten wurden Beweise erbracht. Er hatte den Tod des Onkels des Beschuldigten herbeigeführt und des weiteren versucht, den Beschuldigten selbst zu töten, der sein Lebensaltern seiner schnellen Reaktionsfähigkeit zu verdanken hatte. (An dieser Stelle wurde der Metallbrocken gezeigt.)

  Niemand außer Andrew Carter kannte den wahren Grund für Tims Tod. Troy hatte ein paar Vermutungen geäußert, von denen nicht eine aufgegriffen wurde. Beweisen ließ sich nur, daß Tim während Mays Rückführung unfreiwillig von seinem geliebten Meister getrennt worden war und sich gleich danach wieder auf seinen Platz begeben hatte. Er hatte gesehen, was passiert war, hatte sich umgedreht und den Mörder erkannt. Und war infolgedessen ebenfalls erkannt worden.

  Carter wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, wovon er sechseinhalb Jahre absaß. Da er klug genug gewesen war, den Rest der Summe aus dem Armbanduhrverkauf einem irren, aber gewitzten Investmentbroker zu übertragen, verfügte er - nachdem er auf Bewährung entlassen wurde - über ein stattliches Vermögen. Ein paar Wochen später verließ er, das Geld in einem Bauchgürtel versteckt, das Land.

  Ein paar Monate reiste er quer durch Europa, lebte auf großem Fuß, warf mit Geld um sich und spielte, bis eine undurchsichtige Sache in Marseille (ein markierter Kartensatz bei einem Pokerspiel) ihn zwang weiterzuziehen. Er floh nach Amerika, nach San Diego. Der Sonnenstaat Kalifornien hatte seit jeher große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Dort mietete er einen Wagen, um die Küste hochzufahren. Unglücklicherweise wurde er kurz vor Sausalito von einer Horde als Mafiosi verkleideter New-Age-Schamanen überfallen, schwer mißhandelt und ausgeraubt.

Epilog

Ein paar Tage nach der Lösung des Falles verließ Sylvie Gamelin Manor House. Das Angebot ihrer Mutter - der Schlüssel zum Haus in London - schlug sie aus und zog statt dessen in ein anonymes Hotel in Victoria. Einen ganzen Monat verließ sie nur selten ihr Zimmer, ruhte sich aus, besuchte hin und wieder das Hotel-Restaurant und stattete dem Anwalt der Familie einen Besuch ab.

  Die Enthüllungen über Arthur Craigie (sie konnte es sich nicht angewöhnen, ihn als jemand anderen zu sehen) hatten sie sehr schockiert. Obgleich Sylvie seine Verwandlung - die vor ihrem Zusammentreffen stattgefunden hatte - als echt empfand, gelang es ihr nicht, seine Lehren so unkritisch und mit der gleichen Bewunderung wie früher zu betrachten, was die aus seinem Tod resultierenden Verlustgefühle nur noch zu verstärken schien. Andererseits war ihre Verwirrung so groß, daß sie nicht in der Lage war, ernsthaft um ihn zu trauern.

  Die Einsamkeit im Hotel half ihr, all die verschiedenartigen Gefühle zu verarbeiten. Ganz allmählich lernte sie, den wahren Wert der Einblicke zu schätzen, die der Meister ihr vermittelt hatte und die von der Beschaffenheit seines Charakters nicht geschmälert wurden. Und sie spürte auch, daß die im Verlauf der Meditationen gemachten Erfahrungen nichts mit maßloser Selbstüberschätzung zu tun hatten. Diese Erfahrungen waren echte, wenn auch unergründliche Bekräftigungen für die Richtigkeit ihrer Entscheidung. Sie hatte einen Lebensweg gewählt, der Spiritualität nicht ausschloß.

  In dieser Zeit erhielt sie einen Brief von Willoughby Greatorex, in dem der Anwalt sie schriftlich um einen Besuch bat. .Etwas widerwillig folgte sie dieser Aufforderung, in der ErWartung, von ihm onkelhaft über die Zukunft ihres Treuhandvermögens beraten zu werden. Tatsächlich beabsichtigte er, Sylvie das Testament ihres Vaters vorzulesen. Guy hatte alles, was er vor seinem Tod besessen hatte, seiner Tochter vermacht. Die Nachricht war keine Neuigkeit. Dennoch bestürzte es sie, daß er genau so verfahren war. Ehe sie sich verabschiedete, händigte Sir Willoughby ihr einen großen Briefumschlag mit den Worten aus, es wäre der ausdrückliche Wunsch ihres Vaters gewesen, daß sie ihn erhielt. Den Inhalt kannte er nicht.

  Im Hotelzimmer verstaute Sylvie den Briefumschlag in der hintersten Schrankecke und versuchte ihn zu vergessen. Sie brauchte keine weiteren Erinnerungen an ihren Vater. Eine Sache, die sie im Verlauf ihrer einsamen Introspektion immer wieder beschäftigte, war das Wissen, daß ihr Vater in dem Glauben gestorben war, daß sie ihn für schuldig hielt an der Ermordung von Arthur Craigie. Mehrere Male hatte sie, ruhig auf dem Bett sitzend und darum bemüht, Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen, mit geschlossenen Augen den Versuchunternommen, mit ihm »Verbindung aufzunehmen«. Dabei war ihr vor lauter Konzentration stets ganz schwindlig geworden. All ihre mentalen Anstrengungen erwiesen sich als vergebliche Liebesmüh. Da Guy unerreichbar blieb, erfuhr er nicht, wie sehr seine Tochter ihr Verhalten bereute.

  Einige Tage später öffnete sie den Briefumschlag und leerte den Inhalt aufs Bett. Sie hatte damit gerechnet, Versicherungspolicen, Aktien und Wertpapiere zu finden und nicht Fotos, abgerissene Eintrittskarten, Programme und ein paar gefaltete Briefseiten. Zögernd griff sie nach dem obersten Blatt Papier und strich es glatt.

  Es war ein Schulreport aus dem Winterhalbjahr 1983. Und noch viel, viel mehr lag auf der Bettdecke. Tausend kleine Erinnerungen bis zu dem Jahr, in dem sie von zu Hause fortgegangen war. Außerdem ein paar Zeichnungen, Karten, wissenschaftliche Skizzen und ein mit Spitze verzierter Kragen, auf dem »S.G.« gestickt war. Da waren Notenblätter und ein Stück, »The Robin’s Return«, das wild mit einem Filzstift vollgekritzelt war. Eine von einem Gummiband zusammengehaltene Haarlocke. Sie erinnerte sich, wie sie - als ihr die Haare bis zur Taille reichten - darauf bestanden hatte, sie schneiden zu lassen, nur weil ihr Vater betont hatte, wie sehr ihm ihre langen Haare gefielen. Ihr Blick fiel auf zwei Tickethälften auf einer Postkarte mit einem Gorilla, auf der »Unser Tag im Zoo« geschrieben stand.

  Sie arbeitete sich durch, las nicht alles, warf auf manches nur einen kurzen Blick. Ganz allmählich, Stück um Stück, erfaßte sie das Ausmaß seiner Einsamkeit, seines seelischen Leids, verglich beides mit ihren eigenen Gefühlen. Zuunterst lag ein kleiner, zugeklebter Umschlag, auf dem ihr Name stand. Mit diesem Brief bat er um Vergebung. Der Schreiber war sich darüber im klaren, daß seine Zuneigungsäußerungen nicht willkommen waren, aber nun, da er nicht mehr unter den Lebenden weilte, konnte seine Liebe vielleicht im nachhinein angenommen, akzeptiert werden. Er wünschte ihr alles Glück der Welt. Sie war die einzige, unverdiente Freude seines Lebens, und er war stets ihr ergebener Vater gewesen.