Sylvie hielt das Blatt Papier lange in der Hand. Saß vollkommen reglos auf dem Bett, bis das Zimmer im Dunkeln lag, bis ihr Profil sich wie ein Scherenschnitt gegen den orangeroten Schein der Straßenlaternen abzeichnete. Sie fühlte sich in die Enge getrieben, merkte, wie Wut in ihr aufstieg bei der Erinnerung an die Jahre der Entfremdung. Der Brief und der herzzerreißende Berg Andenken warfen ein anderes Licht auf die Beachtung, die er ihr geschenkt hatte, auf seine Bemühungen, die sie früher als gehässig und autoritär empfunden hatte. Sie entsann sich, wie er in einem Türeingang gegenüber ihrer Wohnung gelauert und versucht hatte, sich zu verstecken, wenn sie herauskam, während sie sich lautstark über sein Verhalten beklagt hatte.
Nun fragte sie sich, was an seinem Verhalten eigentlich so schlimm, so unerträglich gewesen war. Er hatte sie vernachlässigt, wie das zweifellos zahllose andere vielbeschäftigte Väter auch taten. Später versuchte er, diesen Fehler wiedergutzumachen, und übertrieb dabei so sehr, wie er das in allen anderen Lebensbereichen auch tat, seiner Natur entsprechend. Das Blatt Papier in den zitternden Händen haltend, wunderte sich Sylvie, wie leicht es ihr gefallen war, ihm gegenüber ihr Herz zu verschließen.
Der Meister hatte einmal gesagt: »Wagt den Versuch, euch in der Ewigkeit kennenzulernen.« Sie hatte erst gar nicht versucht, ihren Vater kennenzulernen. Jetzt blieb ihr nur noch dieser Brief und die Möglichkeit, über all die verpaßten Gelegenheiten zu lamentieren. Diese Gedanken setzten ihr so sehr zu, daß sie das Hotel verließ, um durch die umliegenden Straßen zu spazieren. Gelbes Laub säumte die Bürgersteige. Ihre Umgebung, die Menschen, denen sie begegnete, nahm sie kaum wahr. Kurz ruhte sie sich auf einer Bank aus, ehe sie mit schnellen Schritten weitermarschierte. Erst als sie völlig erschöpft war, kehrte sie in ihr Hotel zurück und legte sich schlafen. Einmal ging sie in den Park und verbrachte den ganzen Nachmittag versteckt hinter Büschen, bemüht, an nichts zu denken, nur langsam und regelmäßig zu atmen, wie man es sie gelehrt hatte, doch ohne Erfolg. Linderung war ihr nicht beschieden. Reue, jenes erstickende und sterile Gefühl, bemächtigte sich ihrer, raubte der Gegenwart Licht und Wärme, verweigerte ihr die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft.
Des öfteren kam sie an Eccleston Square 58 vorbei. Irgendwann fiel ihr auf, daß dort die Buddhistische Gesellschaft ansässig war. Weitere Wochen verstrichen, ehe sie läutete und die glänzende schwarze Tür öffnete. Nach dem ersten Besuch schaute sie fast jeden Nachmittag vorbei, verbrachte etwas Zeit in der Bibliothek, las und genoß vor allem die Stille. Anfänglich vermied sie es, die geschnitzte Rupa anzusehen, die sie an die groteske Auseinandersetzung auf Manor House erinnerte. Doch je öfter sie kam, desto heimischer fühlte sie sich. Allmählich verblaßten die Bilder der Vergangenheit.
Sie begann den samstäglichen Meditationskurs zu besuchen und schloß sich der wöchentlich stattfindenden Diskussionsgruppe an, zu der einmal Thannisara, eine buddhistische Nonne, eingeladen wurde. Deren Aura konzentrierter Aufmerksamkeit, ihre Grazie, Warmherzigkeit und die Tatsache, daß sie so häufig lachte, all das faszinierte Sylvie. So beschloß sie, ein paar Tage in Amaravati zu verbringen, einem buddhistischen Kloster unweit von Great Gaddesden, dem die Nonne angehörte.
Nach mehreren Aufenthalten dieser Art kaufte sie in der Nähe ein kleines Cottage, verbrachte viel Zeit in Amaravati und wuchs nach und nach in die Rolle der weltlichen Helferin hinein. Sie machte sich in der Küche oder den Gärten nützlich. Am Tag der offenen Tür half sie, sich um die Kinder zu kümmern. Mit der Zeit verschmolz ihr Innen- und Außenleben harmonisch mit dem der spirituellen Gemeinschaft, was ihr eine gewisse Zufriedenheit verschaffte.
Einmal pro Woche traf sie sich zu einem Gespräch mit Schwester Thannisara. Im Verlauf dieser Stunden wurde Sylvie so etwas wie ein spezieller Dispens gewährt, in denen sie entweder mit sich selbst hart ins Gericht ging oder anderen die Schuld an ihrer gegenwärtigen Misere gab. Immer und immer wieder pflügte sie denselben Acker, bis die Worte null und nichtig wurden und wie kalte Asche in ihrem Mund lagen.
Die Schuldgefühle ließen nach. Ihre Gedanken wurden klarer, die Wunden schlossen sich. Die Vergangenheit verlor zusehends die Macht über sie. Irgendwann überlegte sie, ihre Mutter zu besuchen. Der Heilungsprozeß brachte es mit sich, daß sie immer seltener an Andrew Carter dachte. Sechs Monate später war die Erinnerung an ihn vollends Verblaßt.
In bezug auf Ken und Heather, was gibt es da zu sagen, was der Leser (vorausgesetzt, er oder sie besitzt einen Fernsehapparat) nicht schon wüßte? Möglicherweise genügen ein paar Einzelheiten zu ihrem Abschied von Manor House. Am Morgen nach Tim Rileys Tod packten sie ihre Koffer.
Die Beavers erschienen zum Frühstück und verharrten mit gesenkten Köpfen, eingefallenen Schultern und zusammengepreßten Handflächen auf dem glatten Steinboden. Sie erklärten, sie hätten seit ihrem fehlerhaften Betragen nicht mehr schlafen können und kämpften seither mit so schlimmen Schuldgefühlen, daß sie keine andere Möglichkeit sahen, als für immer von Manor House wegzugehen.
Die anderen widersprachen ihnen. Boten Vergebung an, ohne Bedingungen daran zu knüpfen. Ken rief: »Feuerkohlen!«, ließ sich aber nicht dazu bewegen, seine Entscheidung zu revidieren. Sie packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und waren innerhalb einer Stunde verschwunden. Als Ken die Kieszufahrt runterhoppelte, schien sich sogar der Gips für sein Betragen zu schämen. Sie schauten nicht zurück.
Am darauffolgenden Wochenende erschien in News of the World (die während der Abendmeditation auf der Terrasse angerufen und den Preis des Daily Pitch verdoppelt hatte) der erste Teil ihrer Exklusivstory. Nichts wurde ausgelassen. Statt dessen floß eine Menge ein, das nichts mit der Realität zu tun hatte.
Auf Heathers Venusbesuche wurde ausführlich eingegangen. Des weiteren auf die Unterstützung der Götter und anderer kleiner Luftgeister, die ihr halfen, ihren alltäglichen Pflichten nachzugehen. All dies wurde unter der Überschrift »Elementargeister, mein lieber Watson« präsentiert. Zwei Wochen später wurde das Ehepaar zu Wogan eingeladen in der Annahme, sie wären genau die Richtigen, um sich auf ihre Kosten lustig zu machen. Nun, dieser Schuß ging sozusagen nach hinten los, denn mitten in der Sendung verfiel Ken urplötzlich in Trance und channelte Hilarion und die Kristallinen Horden mit solch dynamischer Autorität, daß die Telefonleitungen auf der Stelle heißliefen, weil unzählige Anrufer ein Wochenende buchen wollten. Als die ersten Nachrichten von der anderen Seite eintrafen (von Cosmo Lang, dem letzten Erzbischof von Canterbury, der sich für seine Rolle bei der Unterdrückung des Kirchenberichtes über Spiritualität und Kommunikation entschuldigte), herrschte im Studio helle Aufregung.
Danach war alles nur noch eine Frage der Zeit. Wenige Tage später hatte Baz Badaistan, der - was das Rühren der Werbetrommel anging - hinter Malcolm McLaren den zweiten Platz einnahm, Ken und Heather unter seine Fittiche genommen. Es dauerte nicht lange, und sie besuchten landauf, landab ausgebuchte Häuser. Wie gewöhnlich wurden die Sitzungen mit einer Demonstration von Heathers Heilkünsten beendet. Mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen legte sie die Fingerspitzen auf die Stirn des Bittstellers, der dann obligatorisch in Kens ausgebreitete Arme fiel. Fielen die Kandidaten nicht von allein nach hinten, übte Heather mit den Fingern so lange Druck aus, bis sie nachgaben.