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  Wenn Calypso nicht draußen angepflockt war, hauste sie in einem sauberen weißen Nebengebäude mit einer zweigeteilten Scheunentür. Dort waren Äpfel in Reih und Glied auf Holzlattenregalen ausgelegt. Die schrumpligen Früchte und Calypsos Stroh, das täglich gewechselt wurde, rochen sehr gesund.

  Suhami liebte diesen Ort. Die Stille. Die goldene Wärme der Morgensonne, die von den schneeweißen Wänden reflektierte. Er erinnerte sie an den Solar, in dem sie sich zur Meditation versammelten - hier herrschte die gleiche aufgeladene, wohltuende Helligkeit.

  Der Vergleich ließ sie schmunzeln. An einem alten Kuhstall voller Ziegenmist war nichts Spirituelles. Doch der Meister hatte gesagt, Gott könne sich überall offenbaren, wenn man sein Herz öffnete und sich in Bescheidenheit übte, also wieso nicht hier?

  »Wieso nicht, Cally - hmm?« Suhami schüttelte die letzten Milchtropfen ab und streichelte das warme, gesprenkelte Ziegeneuter. Calypso drehte den Kopf, zog die gummiartige Lippe hoch und musterte ihr Milchmädchen. Die Pupillen ihrer Augen bestanden aus horizontalen gelben Schlitzen, und sie hatte einen dünnen Bart, mädchenhaft und fedrig. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nie. Immer wirkte sie nachdenklich und selbstzufrieden, als hüte sie ein überaus wichtiges Geheimnis. Die kaum wahrnehmbare Bewegung eines Hinterhufs veranlaßte Suhami, schnell den Eimer in Sicherheit zu bringen. Calypsos Glocke tönte leise. Nichts bereitete ihr mehr Spaß, als den Milcheimer umzustoßen.

  Jede Minute mußte Christopher auftauchen, um sie zum Grasen rauszubringen. Wie üblich wurde sie dann über den weitläufigen Rasen geführt. Ihrer Graserei war es zu verdanken, daß er einem samtigen Flor glich. Man hatte sich für dieses Verfahren entschieden, nachdem ein benzinbetriebener Rasenmäher als ökologisch bedenklich eingestuft worden war. Nur Ken, der allergisch auf die Milch reagierte, hatte sich der Abstimmung enthalten.

  Suhami legte Calypso das Lederhalsband an, gab ihr einen Apfel und legte einen zweiten in die hübsche, neben dem Melkschemel liegende Gobelintasche. Die Tasche war ein Geburtstagsgeschenk von May. Die aufgestickten Sonnenblumen und purpurnen Schwertlilien prangten auf einem erdfarbenen Untergrund und waren mit rotbraunen Blättern verziert. Das Muster glich dem Entwurf von Mays eigener Tasche, die Suhami schon seit langem bewunderte. Nur die Sonnenblumen waren anders. Einen Ton blasser, denn das Geschäft in Cau-ston hatte keine ringelblumengelbe Wolle mehr vorrätig gehabt und statt dessen einen weniger tiefen Farbton angeboten. Die Vorstellung, wie May heimlich in ihrem Zimmer dieses Geschenk angefertigt und es immer wieder vor ihr versteckt hatte, allein aus dem Grund, einen anderen Menschen glücklich zu machen, berührte Suhami sehr. Seit sie nach Manor House gezogen war, war Suhami die überwältigende Güte der Lehren des Meisters zuteil geworden, und zudem hatte sie viel Freundlichkeit erfahren. So oft hatte man ihr vorsichtige Anteilnahme entgegengebracht, Unterredungen angeboten, bei denen tatsächlich jemand zuhörte, Trost gespendet, die gemeinsame Bewältigung von Aufgaben angeboten. Jetzt, da sie wußten, wer sie in Wirklichkeit war, würde sich all das ändern. Gewiß - sie würden versuchen, wie gewöhnlich weiterzumachen. Sie wie immer zu behandeln, aber das war schlicht unmöglich. Nach und nach würde das Geld einen Keil zwischen sie und die anderen treiben. So war es bislang immer gewesen.

  Ein ironisches Lächeln machte sich auf Suhamis Lippen breit, als sie daran dachte, wie aufgeregt und hoffnungsvoll sie bei der Vorstellung, sich einen neuen Namen wählen und ihr altes Ich in London zurücklassen zu dürfen, gewesen war. Ein naiver und kindischer Gedanke, denn wie sollte man mit Hilfe solch einer einfältigen Methode zwanzig schreckliche Jahre abschütteln und ein anderer Mensch werden können? Und doch hatte es ihr geholfen. Als »Sheila Gray« war sie ein leeres Blatt gewesen, auf dem neue Freunde ihre Zuneigung artikulieren konnten. Dann hatten ihr wachsendes Interesse an Vedanta und ihre voller Entschiedenheit durchgeführten praktischen Übungen und ein tieferes Verlangen nach weiterer Veränderung zur Wahl ihres jetzigen Namens geführt. Nun waren ihre Tage von stummer Dankbarkeit geprägt, die sie als Zufriedenheit wertete, denn so gut war es ihr noch nie gegangen.

  Eine Weile nach ihr hatte sich Christopher der Kommune angeschlossen. Ziemlich schnell hatten die beiden Freundschaft geschlossen. Er pflegte sie zu necken - ganz und gar nicht unfreundlich (er war nie unfreundlich) -, die Hände auf sein Herz zu legen, um ihr seine Liebe zu gestehen, und zu schwören, daß er sterben würde, falls sie ihn nicht haben wollte. Und das vor allen anderen. Waren sie allein, benahm er sich völlig anders. Dann sprach er über seine Vergangenheit, seine Hoffnungen für die Zukunft, darüber, daß er von der Kamera weg wollte, um zu schreiben und Regie zu führen. Manchmal küßte er sie; es waren schwere, süße Küsse, ganz anders als das feuchte Gesabber, das sie von früher her kannte.

  Wann immer sie an Christophers unausweichlichen Rückzug aus der Kommune dachte, rief sie sich des Meisters Maxime in Erinnerung, daß alles, was sie zu ihrem eigenen Wohlbefinden brauchte, nicht draußen im Äther oder in der Psyche eines anderen Menschen zu finden war, sondern in ihrem eigenen Herzen. Ihrer Einschätzung nach führte dies zu einem harten und einsamen Dasein, zumal sie sich in ihrem Leben schon oft genug einsam gefühlt hatte. Während sie über all das nachdachte, ertönten draußen Schritte. Suhamis Finger zitterten auf dem Holzstuhl.

  Christopher beugte sich über die Scheunentür und fragte: »Wie geht es meinem Mädchen?«

  »Sie hat wieder Apfel gefuttert.«

  Wie immer verwirrte und erfreute sie sein Anblick. Das weiche schwarze Haar, die blasse glatte Haut, die leicht schrägstehenden graugrünen Augen. Sie wartete, bis er »Und wie geht es meinem anderen Mädchen?« sagte, was er sich im Lauf der Zeit angewöhnt hatte. Unerwarteterweise schob er einfach die Scheunentür auf, ging zu Calypso hinüber, schnappte die Leine und sagte: »Komm schon, du altes fettes haariges Wesen.« Er hatte sie nicht mal richtig angelächelt, und falls Suhami sich nicht beeilte, waren die beiden gleich über alle Berge.

  Suhami fragte: »Möchtest du mir nicht zum Geburtstag gratulieren?«

  »Tut mir leid. Selbstverständlich will ich das, Liebes.« Er wickelte die Leine um sein Handgelenk. »Alles Gute zum Geburtstag.«

  »Und seit einer Woche hast du mir nicht mehr deine unsterbliche Liebe erklärt. Das reicht nicht.«

  Während sie sich bemühte, ihre Worte scherzhaft und ihre Stimme ganz gewöhnlich klingen zu lassen, hörte Suhami das Echo Hunderter ähnlicher Fragen in Hunderten von ähnlichen Szenen. Möchtest du nicht für einen Moment reinkommen? Werde ich dich Wiedersehen? Willst du über Nacht bleiben? Wirst du mich anrufen? Mußt du schon gehen? Liebst du mich... liebst du mich... liebst du mich? Und sie dachte: O Gott - ich habe mich überhaupt nicht geändert. Und das muß ich. Muß ich. So kann ich nicht weitermachen.

  »Ich weiß, du sagst es nur aus Spaß...« Ihr fiel auf, wie flehend sie klang, und sie haßte sich dafür.

  »Das ist nie Spaß gewesen.« Seine Stimme klang harsch, als er an Calypsos Leine zog. »Ich sagte, komm jetzt...«

  »Nie...« Suhami stand auf; ihr war schwindlig. Sie starrte ihn ungläubig an. »Du hast das nie im Spaß gesagt? Was war es dann?«

  »Ist das wichtig?«

  »Christopher!« Von Gefühlen übermannt, rannte sie zu ihm, stellte sich ihm in den Weg. »Was meinst du damit? Du mußt mir sagen, was du damit meinst.«

  »Es hat keinen Sinn.«

  »Die Dinge, die du gesagt hast...« Nahezu erhaben berührte sie sein Kinn, drehte sein Gesicht in ihre Richtung, zwang ihn, sie anzusehen. »Ist das wahr gewesen?«