Felicity griff nach einem noch warmen Stückchen, rammte es in ihren Mund, schob mit den Fingern die Krümel nach und verletzte dabei ihre Lippen. Sie kaute und kaute und schluckte und kaute, saugte wie wild den Butter-, Schokoladen- und Vanillegeschmack heraus, spuckte danach den Brei in den Müllzerkleinerer und entsorgte ihn, ehe sie sich eine Zigarette anzündete und durch das Kellergitter zu den traurig beschnittenen Topfplatanen hochblickte. In Gedanken malte sie sich große, gerade, kräftige Bäume mit saftigen Blättern aus, die sich majestätisch über Londons Dreck und Siff erhoben. Ihre ärmlichen Bäumchen hatten nur ein paar Zweige, die aus mit Farbe bestrichenen Wunden sprossen. Jemand lief am Fenster vorbei und schaute nach unten. Felicity wich zurück und eilte die Treppe hoch ins nächste Stockwerk.
Ihr Schlafzimmer befand sich in der dritten Etage. Nachdem sie die Tür abgeschlossen hatte, sank sie keuchend auf Guys Bett, als wäre sie verfolgt worden. Sie schliefen immer noch im gleichen Raum; ob seine Motivation Sturheit oder Boshaftigkeit war, wußte sie nie ganz genau zu sagen. Auf jeden Fall handelte es sich um eine unangenehme Erfahrung. Guy war ein rastloser Typ. Ruhte sein Gesicht auf dem Kissen, drückte es grundsätzlich eine extreme Gefühlslage aus. Hin und wieder grinste er im Schlaf, und Felicity war überzeugt davon, daß er über sie lachte. Auf seinem Nachttisch stand eine Fotografie ihrer gemeinsamen Tochter in einem Schildpattrahmen. Felicity warf nie einen Blick darauf. Sie kannte es in- und auswendig. Oder hätte es in- und auswendig gekannt, hätte sie ein Herz gehabt. Diese melodramatische Erkenntnis veranlaßte sie, vor Selbstmitleid zu weinen und schnell die Augen zu schließen.
Unsinnigerweise griff sie nach dem Bilderrahmen und tauchte weiter in ruinöse Selbstreflexion ab. Während sie in die haselnußbraunen Augen schaute, schienen die Konturen des Gesichts zu verwischen und sich in ineinanderfließende Kindheitsbilder zu verwandeln. Sylvies erste tolpatschige Bemühungen beim Ballettunterricht, ihre verzweifelten Tränen, als sie zur Schule geschickt wurde, ihr beängstigender Zorn, als Kezzie, ihr über alles geliebtes Pony, starb. Felicity knallte das Foto hin; das Glas zerbarst. Jesus, ich brauche einen Drink, schoß es ihr durch den Kopf.
Einen Drink und ein paar Tabletten, die ihr Wohlbefinden förderten. Die braunen Bomben. Sie müßten ihr helfen. Nur für Notfälle, hatte man ihr in der Klinik gesagt, aber wenn unendliche Einsamkeit und Verzweiflung um neun Uhr an einem wunderschönen sonnigen Morgen im tiefsten Belgravia kein Notfall war, was - verflucht noch mal - dann? Und ein Bad. Das dürfte helfen, ihre Stimmung zu ändern. Felicity machte sich an den zarten goldenen Hähnen zu schaffen, aus denen parfümiertes Wasser sprudelte.
An ihrer Zigarette ziehend, schaute sie in den Spiegel und bemerkte ihre eingefallenen Wangen. Ein Netz feinster Fältchen breitete sich neben den Augenwinkeln aus. Soviel zu dem Embryo-Serum, für das zahllose ungeborene Lämmer auf die Möglichkeit verzichtet haben, jemals über eine grüne Wiese zu springen. Sie drückte die Zigarette in dem honigfarbenen Gel aus. Einhundertfünfzig Pfund, und wofür? Für ein Netz feiner Linien. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die Fältchen, bohrte urplötzlich die Nägel mit aller Gewalt in die zarte Haut, auf der Halbmonde zurückblieben. Danach schnappte sie sich das Beruhigungsmittel und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Eine halbe Flasche Champagner aus dem Schildkröten- und elfenbeinfarbenen Armoire nehmend, die Guy in einen Kühlschrank für seinen Schlummertrunk umgewandelt hatte, legte sie die Beruhigungstabletten auf die Zunge und spülte sie mit Champagner runter, der über ihr Gesicht und ihren Hals sprudelte. Im Badezimmer lief das parfümierte Wasser über, überschwemmte den Teppich, kroch langsam zur Tür.
Nachdem Felicity zwei weitere Flaschen gekippt hatte, machte sie es sich mit angezogenen Knien auf einem niedrigen Brokatsessel bequem. Ihr Mund war staubtrocken. Sie versuchte zu vermeiden, den Stoff zu berühren, der ihr wie eine geheimnisvolle Landschaft vorkam: durchbrochenes Gitterwerk, sich voneinander lösende Liebende, die in blutrote Seen rannten, Wolken wie blaugeäderte Fäuste. All das wirkte ihrer Meinung nach auf beklemmende Weise lebendig und vermittelte ihr eine düstere Vorahnung.
Die nahende Flut, das Schwappen des Wassers gegen den Badewannenrand, erregte endlich ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte aufzustehen. Ihre Gliedmaßen waren schwer, ihr Kopf schmerzte. Mit blinzelnden Augen betrachtete sie das Wasser, das immer in Bewegung war. Angst und Verlorenheit brachten sie zum Weinen.
Draußen auf der Straße ertönte das Dröhnen eines Preßluftbohrers. Drrrrrrrr....r.r.r......Felicity steckte die Finger in die Ohren, doch der Lärm hämmerte ungehindert auf ihren Kopf ein. Drrrrrr......
Sie schleppte sich zum Fenster, riß es auf und schrie mit brechender Stimme: »Hört auf, ihr Mistkerle... Hört auf!«
Das Bohren wurde ohne ihr Zutun eingestellt. Gerade als sie sich zurückziehen wollte, fragte eine Stimme unter ihr: »Mrs. Gamelin?«
Felicity beugte sich weiter hinaus. Auf den schwarzweißen Kacheln stand ein ihr vollkommen fremder junger Mann, dessen Miene begehrlichen Respekt verriet. Sie stürmte nach unten - offenbar an das Gekreische von vorhin erinnert, sprang der Mann zurück. Hinter ihm parkte ein Lieferwagen mit dem aufgemalten Schriftzug »Au Printemps: Luxury Dry Cleaning + Invisible Repairs«. Er zog ein Blatt Papier hervor.
»Vom Empfangspult von Mr. Gamelin, Mrs. Gamelin.«
Sein pompöses Getue veranlaßte Felicity zu höhnischem Gelächter. Dennoch nahm sie das Papier in Empfang, auf dem unterschiedliche Kleidungsstücke aufgelistet waren, und las die einzelnen Posten laut vor. »Ein marineblauer Nadelstreifenanzug, ein grauer Nadelstreifenanzug, ein cremefarbenes Dinnerjackett. Zur Abholung.« Und eine Unterschrift: »Gina Lombardi«.
»Warten Sie.« Sie ließ ihn am Eingang in dem Wissen stehen, daß er in dem Moment, wo sie die Treppe hochging, in die Halle trat. In Guys Ankleidezimmer suchte sie - wie es von ihr zweifellos erwartet wurde - die entsprechenden Kleidungsstücke heraus und bemerkte eine Lippenstiftspur auf dem Frackrevers. Ein ganz und gar überflüssiger Hinweis. Wenn es nach Felicity ging, konnte Gina ihn nicht nur besteigen, sondern auch gleich verschlingen.
Sie spazierte zum Geländer und blickte nach unten. Der Mann vom Au Printemps inspizierte gerade seine verpickelte Haut im mexikanischen Spiegel. Felicity rief: »Fangen Sie«, warf die Klamotten runter und beobachtete, wie sie sich im Fallen aufplusterten.
Der junge Mann errötete. Begab sich wortlos in die Halle, kniete sich hin und legte demonstrativ jedes einzelne Kleidungsstück ordentlich zusammen. Felicity schämte sich ihrer grobschlächtigen Art. Bei ihrer Erziehung hatte man großen Wert darauf gelegt, daß sie Untergebene höflich behandelte, zu denen - wie ihre Eltern ihr beigebracht hatten - außer der Königin, dem Thronfolger und - sonntags - Gott jeder zählte.
Er sagte kein Wort. Kontrollierte die Taschen, zog das Innenfutter raus und stopfte es wieder rein. Ihr Verhalten setzte ihm nicht wirklich zu. Jedermann wußte, daß die Reichen und richtig Alten redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und taten, was sie wollten. Und das aus demselben Grund. Beide Gruppen hatten nichts zu verlieren. Die hier war jenseits von Gut und Böse. Champagner konnte er schon von weitem riechen. Da hatte er Hazel ja was zu erzählen, wenn er zurückkam. Im Büro behauptete sie immer, er sei ein waschechter kleiner Nigel Dempster. Und während er halbherzig auf einen weiteren Schwall Obszönitäten wartete, berührten seine Finger einen blaßgrünen Umschlag. Er zog ihn heraus und legte ihn vorsichtig auf den Tisch in der Halle. Sie gab ein fragendes Geräusch von sich.