»Wir sind angehalten, alle Taschen zu überprüfen, Madam.«
»Das sehe ich«, sagte Felicity, immer noch übers Geländer gebeugt. »Ist das eine schwierige Aufgabe?«
Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte und verschwunden war, ging sie nach unten und nahm den Briefumschlag. Unachtsamkeit sah Guy gar nicht ähnlich. Sowohl daheim als auch im Büro hatte er einen Reißwolf. Gewiß, die letzten Tage war er ein wenig zerstreut gewesen, aber trotzdem...
Der Umschlag war aus recyceltem Papier. Sie drehte ihn um. Er war an sie beide adressiert. Eigenartigerweise rief diese perfide Heimlichkeit bei ihr eine wesentlich heftigere Reaktion hervor als sexuelle Untreue oder sozialer Verrat. Mit zittrigen Fingern zog sie das Blatt heraus, Was für eine verdammte Frechheit! Ihr Brief, ihr Brief. Sie las die Nachricht mehrmals, zuerst bebend vor Zorn, allerdings nicht wirklich in der Lage, den Inhalt zu verdauen. Als die Information eingesickert war, saß sie lange Zeit wie in Trance da. Schließlich lief sie ins Wohnzimmer, nahm den Telefonhörer und drückte auf die Tasten.
»Danton - Sie müssen vorbeikommen - sofort... Nein - Jetzt! Ganz schnell. Etwas Unglaubliches ist geschehen.«
Das lauteste Geräusch im Corniche-Kabriolett, das langsam um Ludgate Circus kroch, war das unregelmäßige Klopfen von Guy Gamelins Herz.
Ungeduldig bediente er sich der beruhigenden Technik tiefer, gleichmäßiger Atmung, die ihm dieser Typ in der Harley Street zusammen mit diesem Muskelentspannungskram empfohlen hatte. Keine der beiden Methoden zeigte Resultate. Mürrisch und widerwillig praktizierte Guy beides, aber nur aus einem Grund: Der Gedanke, für einen Rat zu zahlen und ihn dann nicht anzunehmen, war ihm unerträglich. In Wahrheit weigerte er sich zuzugeben, daß derlei prophylaktische Maßnahmen überhaupt notwendig waren. Er war so kräftig wie eh und je. Trotz seiner fünfundvierzig Jahre strahlte er Jugendlichkeit aus.
Da war dieses Flattern in seiner Brust. Eine extrem leise Schwingung wie die einer schwebenden Feder. Guy legte die Finger auf seine Jackeninnentasche, spürte den Umriß einer braunen Glasflasche, ohne die zu reisen ihm nicht mehr gestattet war. Ohne sie durfte er nicht mal vom Schlafzimmer ins Badezimmer gehen. Er zog den Walnußbarschrank heraus, mixte sich einen gefährlich großen, eiskalten Tom Collins und legte eine Tablette auf die Zunge. Kurz darauf ließ die Oszillation in seiner Brust nach, und wenngleich Guy sich nicht entspannte - das tat er nie -, meinte er, etwas bequemer auf dem Lederpolster zu sitzen. Danach stöpselte er das Telefon aus und ließ seine Gedanken schweifen. Sofort begann er sich Szenarien der bevorstehenden abendlichen Auseinandersetzung vorzustellen, die in wenigen Stunden stattfinden würde.
Normalerweise kam Guys Blut vor einer Begegnung mit einem Feind in Wallung. Denn nichts liebte er mehr als einen Kampf. Kampfbereitschaft war seine normale Seelenlage. Jeden Morgen wachte er nach Träumen von blutigen Eroberungen auf, bereit, sich durch städtische Sitzungssäle zu pflügen und eine Reihe verwundeter Unternehmen zurückzulassen. In Kleidungsstücke aus der Savile Road gehüllt, von Trampers rasiert und parfümiert, sah er sich als Kaufmann des 20. Jahrhunderts. In Wirklichkeit war er ein Räuberbaron, auch wenn seine Anwälte denjenigen, der die Kühnheit besaß, dies laut auszusprechen, auf der Stelle gekreuzigt hätten. Guy konnte es nicht ertragen zu verlieren. Beim Kaufen und Verkaufen mußte er der Beste sein, der Beste beim Verwüsten, bei der Aussaat von Leid. Seine Pferde mußten schneller laufen als alle anderen, seine Yacht mußte die schönste sein. Die Rennwagen, die er sponsorte, kamen unter seiner Patronage nur einmal als zweiter ins Ziel. »Zeig mir einen guten Verlierer«, pflegte er dem schwitzenden Fahrer ins ölverschmierte Gesicht zu bellen, »und ich werde dir einen Verlierer zeigen.«
Doch obwohl er Männer wie Erdnüsse kaufte und verkaufte, ganze Unternehmen und zahllose Frauen seinem Willen unterjochte, gab es einen Bereich, wo ihm bislang kein Sieg vergönnt gewesen war. Aber selbst in diesem Fall wurde das Wort »versagen« niemals auch nur angedeutet. Seine Tochter Sylvie war Guys einzige Liebe und gleichzeitig seine größte Pein.
Selbstverständlich hatte Guy damals, als Felicity schwanger wurde, einen Sohn gewollt. Da er es selbst in jenen frühen Tagen gewohnt gewesen war, seinen Willen durchzusetzen, hatte ihn die Geburt einer Tochter am Boden zerstört. Das Maß seiner Enttäuschung angesichts dieser Beleidigung seiner Männlichkeit hatte seine Frau, seine Eltern, das Krankenhauspersonal und jeden, der sich zu jener Zeit in seiner Nähe aufhielt, über alle Maßen erschreckt. Und (zu spät, viel zu spät) wahrscheinlich auch seine Tochter, wie er heute annahm.
In den ersten Wochen nach der Entbindung legte sich sein Zorn etwas, aber Resignation entsprach nicht seinem Charakter. Er besorgte sich jemanden, der aus wissenschaftlichen und medizinischen Journalen die neuesten Informationen über genetische Forschung herausfilterte, und kaufte sich die beste Information, die damals erhältlich war. Nach dem, was er gelesen hatte, stand die Wissenschaft - medizinisch gesehen -kurz vor einem Durchbruch, um das Geschlecht des Kindes im voraus bestimmen zu können, und er war gewiß nicht gewillt, sich ein zweites Mal von der Natur übers Ohr hauen zu lassen. Bedauerlicherweise stellte sich heraus, daß all die zusammengeklaubten Informationen, all die Ausgaben und die tyrannischen Konfrontationen mit Spezialisten nichts als Zeit- und Geldverschwendung gewesen waren, denn Felicity empfing nie wieder.
Während der Schwangerschaft seiner Frau hatte Guy sich seine erste Geliebte zugelegt und Felicitys beharrliche Weigerung, sich zu vermehren, als bewußten Racheakt gedeutet. Als sich dieser Standpunkt später, medizinisch gesehen, als unhaltbar erwies, sah sich dieser ungeheuer empfindliche Mann mit einem fürchterlichen Dilemma konfrontiert. Entweder er ging als Vater eines Mädchens durchs Leben, oder er begann mit einer neuen Partnerin von vorn und tat der Welt somit kund, daß seine Ehe ein Fehlschlag war.
Zu begreifen, daß ihm solch ein Geständnis absolut unmöglich war, hieß auch zu verstehen, was für ein erstaunlicher und unerhörter Triumpf es gewesen war, daß er sich Felicity überhaupt geangelt hatte.
Ihre Familie hatte in ihm freilich das gesehen, was er war. Sie hatten seine Herkunft durchleuchten lassen und waren von ihr angewidert. Sie, die gerade ein genuesisches Mädchenpensionat absolviert hatte, konnte auf eine ganze Reihe passender junger und nicht mehr ganz so junger Männer zurückgreifen, die ihr im Vergleich zu Guy - der sie faszinierte und genauso stark befremdete - allerdings furchtbar dröge vorkamen. Er war sich seiner Anziehungskraft bewußt und achtete sorgsam darauf, daß der Angstquotient nicht unter ein bestimmtes Level fiel. Einerseits mußte er gerade hoch genug sein, damit sie nicht das Interesse verlor, und andererseits niedrig genug, um ihr den Eindruck zu vermitteln, er ließe sich schon zähmen, falls ihm nur das richtige Mädchen über den Weg lief. Sie zähmte ihn nicht. Dafür vernichtete er sie.
Dennoch durfte ihr gemeinsames Leben, falls man diese leere barocke Extravaganz überhaupt als solches bezeichnen konnte, nicht enden. Mit Geld hatte er sich nicht abspeisen lassen, und das hatten alle versucht. Niemand würde ihm jemals nachsagen können, daß er etwas, das er einmal bekommen hatte, wieder losließ.
Die Kindheit seiner Tochter interessierte ihn nicht die Bohne. Er kriegte kaum mit, daß sie existierte. Es hatte Kindermädchen gegeben (die eine oder andere hatte sich als äußerst befriedigend herausgestellt), und ab und an waren andere Kinder ins Gamelin-Haus eingeladen worden. Einmal war Guy nach Hause gekommen und hatte Horden von Kindern mit bunten Ballons und Karnevalhütchen und einen Mann in einem Clownkostüm auf einem Einrad angetroffen. Bei jener Gelegenheit hatte Sylvie sich mit ernster Miene bei ihm für eine wunderhübsch gekleidete, einen Meter große Puppe bedankt, die ihm noch nie zuvor unter die Augen gekommen war. Normalerweise kam ihr kein Sterbenswörtchen über die Lippen, und wie sollte Guy, bar jeder Phantasie, jenen leidenschaftlichen Hunger seiner Tochter nach Liebe und Lob oder einfach nur Aufmerksamkeit verstehen?