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  Und dann, nach ihrem zwölften Geburtstag, veränderte sich alles grundlegend. An jede Minute dieses Tages entsann er sich noch ganz genau. Jemand hatte sie gebeten, etwas auf dem Klavier zu spielen. Da Musik auf dem Stundenplan ihres extrem teueren Internats stand, mußte sie lernen zu musizieren. Sylvie besaß kein Talent, hatte sich aber, da sie schon Stunden nehmen und während der Schulzeit üben mußte, eine rudimentäre Technik angeeignet. Sie hatte »The Robin’s Return« gewählt, eine altmodische, ziemlich sentimentale Melodie. Guy stützte sich auf den Marmorkamin und fragte sich, ob er mit seinem Gespür für Veränderung bei Blue Chip Trusts richtig gelegen hatte, als er über den weißen Steinway-Flügel blickte und zum ersten Mal das Gesicht seiner Tochter wahrnahm.

  Blaß, intensiv, starr vor Angst. Mit in Falten gelegter Stirn saß sie da, ihre Lippen eine schmale Linie der Konzentration. Dünne Ärmchen schwebten über den Tasten; ihr glänzendes braunes Haar wurde von einem samtbezogenen Kamm aus dem Gesicht gehalten. Sie trug ein blau-weiß gestreiftes Kleid mit großem weißem Kragen und eine Schleife mit dünnen dunkelblauen Linien. All diese Einzelheiten hatte Guy so deutlich und lebendig vor Augen, als wäre ihm gerade eben erst die Gabe des Sehens zum Geschenk gemacht worden. Und dann, bevor er sich auch vage an diesen beinahe halluzinogenen Anblick gewöhnte, ereignete sich eine zweite, weitaus seltsamere Begebenheit.

  Eine Glut extremer Emotionen überwältigte ihn. In dem Gefühl, darin zu ertrinken, von ihnen weggetragen zu werden, hielt er sich unendlich beunruhigt am Kamin fest. Er bildete sich ein, just erkrankt zu sein, so stark reagierte sein Körper. Sein Herz fühlte sich an, als drücke jemand fest zu, sein Magen machte einen Satz und wurde dann zusammengedrückt. Doch damit nicht genug - nachdem diese Gefühle verebbt waren, blieb ein trauriger Rest über und ließ ihn mit der Gabe des Verstehens zurück.

  In kürzester Zeit wußte er um die Verzweiflung, die Einsamkeit, den Hunger nach Liebe, unter dem seine Tochter litt. Und gleich darauf lernte auch er den Schmerz kennen und empfand eine besorgte, auf sie gerichtete Zärtlichkeit. Die Neuartigkeit und die Macht dieses Schmerzes - von dem ihm jeder Vater hätte berichten können - fühlte sich an wie ein Messer, das ihm jemand in den Magen rammte. Er ertrank in ihrem ernsten Antlitz, und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, daß er sie nur selten lächeln gesehen hatte. (Warum war ihm das bisher nicht auf gefallen?) Das Wissen um ihre Traurigkeit berührte ihn über alle Maßen. Und dann überfiel ihn das verzweifelte Bedürfnis zur Wiedergutmachung. Ihr seine Liebe anzubieten.

  Ja - er erkannte dieses Gefühl als das, was es war, obgleich man es ihm niemals entgegengebracht hatte. Er gelobte, ihr alles zu geben. Sich Zeit für alles mögliche zu nehmen, die vergangenen Jahre wettzumachen. Als die Musik leiser wurde und nach ein paar Noten gänzlich verhallte, applaudierte er, brachte die Hände zu laut zusammen. Amüsiert und fassungslos starrte Felicity ihn an.

  »Das war sehr gut, Sylvie. Ausgezeichnet, Liebling! Du machst große Fortschritte.« Es überraschte ihn, wie selbstverständlich ihm diese Worte über die Lippen kamen. Ihm, der niemals ein Lebewesen gelobt hatte. Er wartete auf ihre Reaktion, hing väterlichen Illusionen nach, malte sich ihre Freude über seinen Enthusiasmus aus. Behutsam klappte sie den Tastendeckel zu, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ das Zimmer. Felicity lachte.

  Von jenem Augenblick an verfolgte Guy seine Tochter. Er nahm sie aus dem Internat, um sie jeden Tag sehen zu können. Jedes Wochenende überlegte er sich Aktionen, die ihr möglicherweise gefielen oder sie unterhielten. Er überschüttete sie mit Geschenken, legte sie ihr in den Schoß, versteckte sie in ihrem Zimmer oder wickelte sie in die Serviette neben ihrem Besteck ein, krank vor Sorge, daß sie nicht ihrem Geschmack entsprachen. All seine Bemühungen, ihre Zuneigung zu gewinnen, wies sie zurück. Nicht barsch oder vehement - damit hätte er umgehen können, das wäre ein Anfang gewesen, auf dem sich etwas aufbauen ließe sondern indem sie sich in leiser, wohlerzogener Resignation abwandte. Manchmal kam es vor, daß sie ihn anblickte. Ihre Augen glichen blaßblauen Steinen.

  Nur ein einziges Mal zeigte sie ihre Gefühle, als sich Guy - in einem neuen Anfall von Reue über jahrelange Vernachlässigung - eines Tages während eines Zoobesuchs dazu durchrang, seine Scham und sein Bedauern in Worte zu fassen. In dem Bedürfnis, vielleicht einen Bruchteil der Schuld abzustreifen. Kaum hatte er zu sprechen begonnen, drehte sie sich um und brüllte ihn an: »Hör auf, hör auf. Das interessiert mich nicht.«

  Anstandslos hatte er von seinen Bemühungen Abstand genommen, und sie hatten den verbleibenden Nachmittag stumm und distanziert verbracht, wenn auch nicht distanzierter als sonst, wie er schmerzlich einräumen mußte. Wohin er an diesem Tag auch schaute, überall erblickte er Väter, die ihre Kinder an der Hand hielten oder auf dem Arm trugen. Ein Junge, dem Aussehen nach gerade mal sechzehn Jahre alt, trug ein winziges Baby in einem Leinenbrusttuch. Das Kleine schlief, sein gerötetes, verschrumpeltes Profil ruhte auf dem flachen Brustkorb des Jungen. Das hätte ich auch tun können, dachte Guy und blickte verärgert auf den Scheitel seiner Tochter. Jesus - ich entsinne mich nicht mal, sie auf den Arm genommen zu haben.

  Niemals wieder startete er den Versuch, Sylvie mit einer Erklärung seiner Gefühle zu belasten. Einmal jedoch mühte er sich ab, sie schriftlich festzuhalten. Den Brief hatte er ihr allerdings nie ausgehändigt, sondern ihn statt dessen zusammen mit einer Locke ihres Haars, ein paar Fotos und Schulzeugnissen in seiner Schreibtischschublade versenkt. Und während Monate und Jahre verstrichen, verlor seine bittere Reue angesichts ihrer fortwährenden Indifferenz ein wenig an Schärfe. Locker zu lassen war ihm freilich nicht gegeben. Unbeirrt unterhielt er sich mit ihr, bis seine Kehle schmerzte, stellte Fragen, machte Vorschläge, gab Kommentare zu Alltäglichkeiten ab. Irgendwann war er dann auf die Idee verfallen, Felicitys Gegenwart verursachte die Zurückhaltung des Mädchens. Daß er und Sylvie, wenn sie allein leben würden, durch den glücklichen Zufall einer familiären Osmose Wärme in das Herz und Leben des anderen hauchen würden. Ohne zu zaudern hatte er Sylvie einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Inzwischen war es ihm egal, daß dieser Schritt der Welt vom Fehlschlagen seiner Ehe kündete. Sylvie war ziemlich verwirrt gewesen, hatte die Stirn gerunzelt und einen Augenblick nachgedacht, bevor sie fragte: »Wieso sollte ich diesen Wunsch hegen?«

  Vor fünf Jahren war eine neuerliche Veränderung eingetreten. Am Morgen ihres sechzehnten Geburtstages verschwand Sylvie. Verließ wie üblich das Haus, als ginge sie zur Schule, kam dort nie an, kam nicht mehr heim. Guy, rasend vor Angst, war überzeugt, daß sie entführt worden war. Nachdem keine Löse-geldforderung gestellt wurde, malte er sich aus, sie wäre in einen Unfall verwickelt gewesen, einem Mörder zum Opfer gefallen. Er setzte sich mit der Polizei in Verbindung, die - nachdem sie Sylvies Alter erfahren hatten - irritierend gelassen reagierte und die Vermutung anstellte, daß sie höchstwahrscheinlich bei Freunden oder einfach eine Zeitlang allein sein wollte.

  In der Überzeugung, daß das nicht der Fall war, stattete Guy ihrer Schule einen Besuch ab und fragte, ob er mit jemandem sprechen könnte, dem seine Tochter besonders nahe gestanden habe. Mit einem Namen konnte er nicht aufwarten, da Sylvie nie von ihren Freunden erzählt, seit vielen Jahren niemanden mehr mit nach Hause gebracht hatte.