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  Ein hochgewachsenes Mädchen mit schmalen Augen und hochnäsigem Blick wurde in das Büro des Direktors geführt. Sie informierte Guy, daß Sylvie seit jeher behauptete, sie könne ihren sechzehnten Geburtstag nicht erwarten, weil sie dann das Elternhaus verlassen konnte. »Sie hat mir gesagt«, plauderte das Mädchen mit gespielter Widerwilligkeit aus, »daß sie ihre Eltern zutiefst verachtet.«

  An jenem Abend hörte Felicity, die von ihrer dritten Behandlung und schon ziemlich hinüber heimkam, sich die kläglichen Enthüllungen ihres Gatten an und sagte: »Mein Gott, außer Geldmachen ist dir doch alles schnurzegal. Sie haßt uns schon seit Jahren.«

  Guy spürte Sylvie ziemlich schnell auf. Sie lebte in einem besetzten Haus in Islington. Relativ annehmbar, soweit man das von besetzten Häusern sagen konnte. Wasser, Elektrizität, Teppichreste auf dem Boden. Er erschien mit den Papieren eines dreijährigen Rennpferdes, sein Geburtstagsgeschenk für sie. Sie kam an die Tür und begann auf der Stelle zu schreien und ihn zu beschimpfen, spuckte ihm fast ins Gesicht. Nach Jahren blutloser, mundfauler Introvertiertheit hatte ihre Reaktion auf ihn die Wirkung eines Elektroschocks. Irritiert, überrascht und - wie er sich eingestand - aufgeregt wich er einen Schritt zurück. Dann warf sie die Papiere über das Kellergeländer und knallte die Tür zu. Jemand mußte sie später aufgehoben haben, denn im folgenden Monat wurde das Pferd ein Drittel unter Wert verkauft.

  Komischerweise stachelte diese lautstarke Auseinandersetzung Guys frühere Hoffnungen an, nachdem er sich eigentlich längst voller Resignation an die nichtexistente Beziehung zu seiner Tochter gewöhnt hatte. Er mochte nicht glauben, daß einer der sechs schmarotzenden Troglodyten, die hinter ihrem Rücken höhnisch gegrinst hatten, einen Pfifferling für ihr Wohlbefinden gab.

  Im Lauf der nächsten Jahre zog sie sehr oft um. Guy beauftragte eine Privatdetektivagentur, Jaspers, in der Coalheaver Street, und wußte daher immer, wo sie steckte. Allein lebte sie nie. Gelegentlich wohnte sie in einer Wohngemeinschaft, hin und wieder nur mit einem Mann. Diese Liebschaften, falls es welche waren, hielten selten lange Zeit. Guy schrieb Sylvie regelmäßig, bat sie, nach Hause zu kommen, und legte stets einen Scheck bei. Zu Weihnachten und zum Geburtstag einen dicken Scheck. Auf seine Briefe antwortete sie niemals, die Schecks hingegen wurden immer eingelöst, was nur hieß, daß er wenigstens noch zu etwas gut war. Wenn sie erst mal einundzwanzig war und über ihren Treuhandfonds verfügte, würde ihm selbst diese winzige Rolle abgesprochen werden.

  Mich wundert nicht, daß sie es mir heimzahlen möchte, dachte Guy. Hat lange genug darauf warten müssen. Hat gewartet und gewartet, bis sie mich demütigen und zurückweisen konnte, wie ich es jahrelang mit ihr gemacht habe. Fast mit Freude erkannte er: Sie ist genau wie ich. Und dann kam die Erkenntnis, die ihn zu Boden schmetterte: Und ich würde niemals vergeben.

  Ab und an fragte er sich quasi zum Trost, ob sie möglicherweise einer kalten, grausamen Symmetrie folgte. Hatte sie sich vorgenommen, diese Bestrafung, diese Verbannung exakt zwölf Jahre aufrechtzuerhalten, also genau so lange, wie seine gedauert hatte? Dann wäre sie achtundzwanzig. Vielleicht verheiratet, mit eigenen Kindern. Würde eventuell woanders wohnen. Vielleicht in Übersee. Angesichts dieser Gedanken beschlich Guy die verabscheuungswürdige und gemeine Ahnung, daß er, wäre sie tot, damit besser zurechtkäme.

  All dies führte dazu, daß er immer in der Nähe der Wohnung rumging, wo sie gerade ihre Zelte aufgeschlagen hatte, heimlich und verunsichert wie ein abgewiesener Liebhaber. Einmal hatte sie ihn beim Einsteigen in ein Taxi entdeckt und wie ein obszöner Bauarbeiter heftig und vielsagend gestikuliert. Ein anderes Mal - und das war viel schlimmer gewesen - hatte er sie aus einem Gebäude kommen sehen, am Arm eines gelangweilt dreinblickenden Mannes in einem Tweedjackett. Sie hatte fröhlich geplaudert und ihn angelächelt. Ihre Haltung war die einer Person gewesen, die sich verzweifelt darum bemüht zu gefallen. Mitten auf der Straße hatte der Kerl sie abgeschüttelt, und Guy hätte ihn am liebsten umgebracht, ohne daß ihm die Ironie seiner Reaktion entgangen wäre.

  Schließlich verschwand sie ein letztes Mal von der Bildfläche. Und zwar richtig. Angesichts ihres intelligenten Untertauchens übernahm Jasper höchstpersönlich die Aufgabe, sie zu finden. Sich als Schuldeneintreiber ausgebend, stattete er ihrem letzten Wohnort einen Besuch ab, nur um von einer Amazone von Mitbewohnerin die Treppe runtergeschmissen zu werden. Danach wurde ein weiblicher Schnüffler eingestellt, der das Glück anfänglich auch nicht hold war.

  In diesen Wochen raste Guy vor Verzweiflung. Ehe ihm das Wissen um den Wohnort seiner Tochter versagt blieb, hatte er nicht begriffen, wie wichtig dies für seinen Seelenfrieden war. Auch wenn sie sich voller Bitterkeit von ihm fernhielt, hatte er zumindest gewußt, daß es ihr »gutging«, im eigentlichen Sinne des Wortes. Nachdem sie verschwunden war, registrierte er tagsüber und während der Nacht - vor allem in seinen Träumen - eine große, alles verschlingende Dunkelheit, die ihn in Augenblicken, in denen seine Achtsamkeit nachließ, zu übermannen drohte.

  Einmal, als diese Ängste ihn fast bei lebendigem Leib auffraßen, hatte er sich kurz mit der Presse unterhalten. Die würde sie schon finden. GAMELIN-ERBIN VERSCHWUNDEN! Sie hatten massenhaft Fotos von ihr in ihren Archiven. Sie würden sie jagen und aus ihrem Versteck zerren. Irgendwo wußte irgend jemand, wo sie war. Auch wenn diese Vorgehensweise die Vater-Tochter-Beziehung nicht noch stärker belastete, als das ohnehin schon der Fall war, so standen die Chancen auf eine wie auch immer geartete, zukünftige Versöhnung nun schlechter denn je. Eine Möglichkeit, an die Guy unvernünftigerweise immer noch glaubte.

  Knapp drei Wochen nach Sylvies Verschwinden stieß das Rechercheteam von Jaspers auf einen Informationskrümel. Eine Detektivin war auf die kluge Idee gekommen, einen Termin bei Sylvies Friseur zu machen. Dort stellte sie mit großen Augen und exaltiertem Gehabe die Vermutung an, daß Felix und seine Lockenwickler Zugang zu den Geheimnissen der Hälfte aller Mitglieder der Londoner Gesellschaft hatten. Ihre Schmeicheleien lockerten die Zunge des Hairstylisten beträchtlich. Nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, daß jemand, der einen so gräßlichen selbstgestrickten Pulli und einen Vororthaarschnitt trug, garantiert kein Klatschkolumnist sein konnte, ließ er den einen oder anderen Namen fallen und wartete mit schlüpfrigen Anekdoten auf, die die Gute mit ihren langweiligen kleinen Freunden in Ruislip oder wo auch immer teilen konnte.

  Zwei Informationen bezogen sich auf Sylvia Gamelin. Offenbar langweilte Hammersmith sie in Grund und Boden (»Und wem ginge das nicht so, meine Liebe?«). Daher war sie an einen ruhigen, sauberen und friedlichen Ort gezogen. Auf die drängende Frage, wo dieser Ort denn sein mochte, erwiderte Felix: »Sie redete nur vom Land. Und wir alle wissen doch, wie groß das ist, nicht wahr? Womöglich hat sie ja nicht mal die an London angrenzenden Grafschaften gemeint.« Klappernde Scheren blieben angesichts dieser bedrohlichen Vorstellung in der Luft hängen.

  »Sie sagte, sie habe einen ungewöhnlichen Mann kennengelernt, aber ob die beiden Dinge miteinander in Beziehung stehen...«

  Auch wenn diese Informationsschnipsel Guy nicht zu beruhigen vermochten, stürzte er sich wie ausgehungert auf sie und wies Jaspers an, die Bemühungen zu verdoppeln und auszuschwärmen. Weitere Hinweise oder Spuren wurden trotz aller Anstrengung nicht gefunden. Sechs leere Monate verstrichen, nicht ohne bei Guy Spuren zu hinterlassen. Die tiefe Befriedigung, die er früher aus dem Ankauf und der rigiden Umgestaltung von Firmen, aus der Durchsetzung auf dem internationalen Markt gezogen hatte, verwandelte sich in das dumpfe, ganz und gar nicht zielgerichtete Verlangen, anderen Schmerz zuzufügen. Was wiederum Einfluß auf seine Urteilsfähigkeit hatte. Er kaufte und verkaufte mit einer gewissen Schwerfälligkeit und begann zum ersten Mal seit zwanzig Jahren Geld zu verlieren. Gottlob war vor ein paar Tagen der Brief gekommen.