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  Als sie nicht weitersprach, hakte Christopher sich bei ihr unter und führte sie zu der großen Zeder. »Setzen wir uns da hin, und dann werde ich -«

  »Nicht hier.« Suhami blieb stehen.

  »Okay.« Verdrießlich dreinblickend, drehte er sich um und spazierte mit ihr zum Teich.

  »Ich weiß, es ist dumm... und ich weiß, daß sie längst vom Wind weggeblasen wurde, aber Jims Asche wurde hier verstreut. Ich kann nicht anders; dieser Ort ist für mich immer so etwas wie ein Grab.«

  »Arno hat mir davon berichtet. Muß sehr traurig gewesen sein.«

  »Das war es damals. Und dennoch - es ist wirklich eine Schande, wie schnell man vergißt.«

  »Ich denke, das ist immer so. Es sei denn, die Person hat einem ungewöhnlich nahegestanden.«

  »Er war ein so netter Mann. Ruhig und bescheiden. Wenn er seine Arbeit getan hatte, ging er einfach auf sein Zimmer und las oder meditierte. Eigentlich paßte er nicht richtig in diese Art von Kommune. Manchmal hatte ich den Eindruck, er wäre in einem Kloster glücklicher gewesen.«

  »Aber war er nicht ein heimlicher Säufer? Ich meine, gehört zu haben, daß -«

  »O nein. Er hat überhaupt nichts getrunken. Darum ist es ja so eigenartig. Um ehrlich zu sein -«

  »Hallo.« Der Zuruf kam von der Terrasse. May kam winkend auf sie zu.

  Sie kam ruhigen Herzens. So ruhig, als hätten sich ihre Probleme in Luft aufgelöst. Kwan Yin hatte schließlich doch noch Wunder bewirkt. Nachdem sie sich erst mal ihr Problem vergegenwärtigt hatte, war die Lösung derart logisch, daß May sich am liebsten selbst einen Tritt in den Hintern gegeben hätte, weil sie so blind gewesen war. Natürlich war Christopher die Person, mit der sie sprechen mußte. Er war erst nach Jims Tod nach Windhorse gekommen und konnte deshalb unmöglich in die Geschehnisse verwickelt gewesen sein. Ihre Erleichterung führte mitnichten dazu, daß May seiner Reaktion gelassen entgegensah. Immerhin war es durchaus möglich, daß er vorschlug, zur Polizei zu gehen, und May wußte, daß sie sich in diesem Fall genauso schuldig fühlen würde, als hätte sie diesen Weg gewählt.

  Sie hoffte, ihn allein anzutreffen, aber Suhami winkte ihr zu und rief: »Möchtest du etwas von uns, May?« Mit einer vagen Handbewegung versuchte May anzudeuten, daß - selbst wenn das der Fall gewesen wäre - sie den Grund ihres Kommens vergessen hatte. Aber die Geste wirkte gekünstelt, denn May war hoffnungslos ehrlich, arglos wie ein kleines Kätzchen.

  »Eigentlich habe ich dich gesucht, Christopher.«

  »Nun, jetzt hast du mich gefunden.«

  »Ja... ähm... tja... Am Wochenende wollten wir Honig ernten, und der Sterilisierer funktioniert nicht.« May sprach mit geschlossenen Augen und rang um Worte. Wie ein schlecht sitzender Zahn lag ihr die Lüge im Mund.

  »Letztes Mal, als wir ihn benutzt haben, funktionierte er prima.« Zusammen schlenderten sie zum Haus zurück. »Aber das ist schon ’ne Weile her.«

  Beim Betreten des Hauses zerbrach sich May den Kopf, wie sie das junge Paar auseinanderreißen könnte. Ihr fielen eine ganze Menge unsinniger Ausreden ein, aber sie war sich bewußt, daß sie sie nicht überzeugend rüberbringen konnte und infolgedessen eher Suhamis Verdacht erregen, als ihn zerstreuen würde.

  »Ich werde mich nach dem Tee darum kümmern.«

  »Um was kümmern?« May starrte Christopher verblüfft an.

  »Um das, worum du mich noch vor zehn Sekunden gebeten hast, May. Nach dem Tee werde ich mir den Sterilisierer anschauen - in Ordnung?«

  »Aber sicher!« rief May. »Tee! Suhami - ich muß mein Ginseng einnehmen und habe es auf meinem Nachttisch stehenlassen. Wärst du so nett - dann könnte ich mir den Gang ersparen und meine Beine schonen...«

  Kaum eilte Suhami davon, packte May den Arm ihres Begleiters und zerrte ihn in die Halle, bis sie unter dem Oberlicht standen. »Christopher, ich muß mit dir reden«, flüsterte sie dann.

  Mit gehetztem Blick schaute er sich um und flüsterte: »Ich denke, sie wissen von unseren Plänen.«

  »Sei ernst.«

  Christopher lachte. »Entschuldigung. Wenn du möchtest, werde ich sofort nach dem Sterilisierer sehen, und wir können uns in der Küche unterhalten.«

  »Das Ding funktioniert prima. Mir ist ad hoc nichts Besseres eingefallen. Ich mußte dich allein sprechen. Ich mache mir solche Sorgen. Irgend etwas geht hier vor... etwas stimmt nicht. Und ich bin mir sicher, daß es mit Jims Tod zu tun -« Sie brach ab und blickte zur Galerie hoch, die leer zu sein schien. »Was war das?«

  »Ich habe nichts gehört.« Er folgte ihrem Blick.

  »Ein Klicken. Als habe jemand eine Tür geschlossen.«

  »Vielleicht war dem so. Was soll das alles, May?«

  »Laß uns lieber draußen reden.«

  Christopher ließ sich von ihr den Gang hinunter in Richtung Küche schleifen. »Kommt mir alles ein bißchen wie der MI vor. Du rekrutierst nicht zufälligerweise neue Leute?« Sie kamen zum Hintereingang des Hauses, einer verglasten Terrassentür. »Ich werde keinen Mikrofilm schlucken, May«, scherzte Christopher weiter. »Nicht mal für dich.«

  Sie traten nach draußen. Christopher drehte sich um, um die Tür zu schließen. May stand ein paar Schritte hinter ihm auf unebenen, moosbewachsenen alten Pflastersteinen. Auf dem Weg zu ihr nahm er ein tiefes Rumpeln wahr. Donner? Ein Blick nach oben verriet keine Verdunkelung. Dann ertönte ein Poltern, und ein großes schwarzes Objekt holperte über die Dachrinne.

  Mit einem Aufschrei verpaßte Christopher May einen Stoß. Sie flog nach vorn, fiel über den Saum ihres Kleides und plumpste über eine Blumenrabatte. Christopher stürzte in den Türeingang zurück. Der Gegenstand landete zwischen ihnen und brachte einen Pflasterstein zum Bersten. In Sekundenschnelle breitete sich von der Aufprallstelle ein Netz aus; Steinsplitter flogen durch die Luft.

  Der Fall hatte sich so schnell ereignet und der Aufprall war so gewaltig gewesen, daß die beiden einige Sekunden vor Schock reglos an Ort und Stelle verharrten. Langsam registrierte Christopher, daß jemand hinter ihm stand und seinen Namen rief. Suhami.

  »Hast du geschrien? Was ist denn? Was soll - May...«

  Mit zerkratztem Gesicht, auf dem Abdrücke von Lavendelästen prangten, kämpfte May sich auf die Füße. Während Suhami ihr zu Hilfe eilte, schlich Christopher ins Haus zurück. Immer noch keine Menschenseele auf der Treppe oder Galerie. Alles war ruhig.

  Behende rannte er zur Galerie hoch, klapperte alle drei Seiten ab, klopfte an Türen, riß sie auf und warf einen Blick in die dahinterliegenden Zimmer, wenn niemand antwortete. Alle Zimmer waren leer.

  Am hinteren Ende des rechten Flügels, verdeckt durch einen Samtvorhang, lag ein extrem spitz zulaufender Mauerbogen. Gleich hinter dem Bogen gab es ein Dutzend Stufen, die wie ein Korkenzieher in enger Drehung aufs Dach führten. Es gab Anzeichen, daß vor kurzem jemand hier gewesen war. Der Staub auf den Stufen war teilweise weggewischt und mit Farbsplittern von dem alten, grüngestrichenen Oberlichtrahmen übersät. Christopher erinnerte sich, daß Arno vor ein paar Tagen dort oben gewesen war, um Vogelscheiße vom Fenster zu kratzen. Er kniete sich auf die oberste Stufe, ganz dicht neben das Glas, stieß den nächstbesten Glasflügel des Oberlichts auf und fixierte ihn mit einem verrosteten Stab. Danach steckte er vorsichtig den Kopf durch die Öffnung und schaute sich um.

  Auf dem Dach schien niemand zu sein. Er kletterte hoch und verlor sofort jedes Orientierungsgefühl - die enge Wendeltreppe hatte ihn vergessen lassen, wo welche Himmelsrichtung lag. Zur Orientierung drehte er sich langsam im Kreis. Dort lag der Gemüsegarten, daher mußte der Dachabschnitt über der Hintertür auf der entgegengesetzten Seite liegen.

  Während er noch zögerte, was er als nächstes tun sollte, schoben sich Wolken vor die Sonne und ließen die Farben der ihn umgebenden Ziegel und Mauern verblassen. Wind kam auf, und Christopher zitterte, obgleich ihm nicht kalt war. Jemand spaziert über mein Grab. Er fragte sich, wann dieser Satz zum ersten Mal Erwähnung gefunden hatte, denn die Toten, eingebettet in ihre hölzernen Kokons, waren die letzten, die sich dafür interessierten, ob jemand über ihre zu Staub zerfallenden Köpfe ging oder gar auf ihnen tanzte.