Obwohl sie sich der Tür ganz leise genähert hatte, hörte May hektische Bewegungen. Trotz ihrer Furcht harrte sie aus, die Neuen Karten über dem Kopf haltend. Entgegen ihrer Erwartung ging die Tür nicht auf. Unentschieden, was sie als nächstes unternehmen sollte, spitzte sie die Ohren, hörte ein metallisches Knirschen, das sie an das Schiebefenster denken ließ. Sie eilte in ihr Zimmer zurück, doch bis sie das Buch weggelegt hatte und an ihr Fenster getreten war, war es schon zu spät. Das Fenster nebenan stand weit offen, und sie meinte einen Schatten, eine dunkle Bewegung am Ende der Terrasse auszumachen.
Dies veranlaßte sie, ihren Entschluß, sofort Alarm zu schlagen, nochmals zu überdenken. Wer immer das gewesen war, er war nicht in Richtung Straße und Außenwelt geflohen. Zu fliehen hätte niemanden vor größere Probleme gestellt, denn wie viele große elisabethanische Häuser lag auch Manor House nur unweit der Dorfhauptstraße. Vor ein paar Monaten hatten auf dem Grundstück Vandalen ihr Unwesen getrieben (Müll in den Teich geworfen, Glühbirnen kaputtgeschlagen), woraufhin die Lodge eine Halogenlampe angeschafft hatte, die sich nach Dunkelheit automatisch einschaltete, wenn sich eine Person oder ein Fahrzeug auf oder neben der Zufahrt bewegte. Diese Lampe ging nicht an.
Doppelt verunsichert ließ May sich auf ihrem Fensterplatz nieder und blickte in die wohlriechende Nacht hinaus. Die unterschiedlichen Gartendüfte und die am Himmel stehenden Sterne vermochten nicht, ihre Stimmung zu ändern. In diesem besonderen Augenblick litt sie unter extremer Einsamkeit. Nicht unter jener dunklen Verlassenheit, die sich gewöhnlich gegen vier Uhr morgens einstellt und wo man vom Zeitpunkt und den Umständen des eigenen Todes niedergedrückt wird. Ihre Einsamkeit war weniger gewichtig, aber genauso beängstigend. Sie hatte entdecken müssen, daß in ihrem Eden - auf Golden Windhorse empfand sie ein Glück, das keine andere Bezeichnung zuließ - eine Schlange hauste. Mit zwei Gesichtern, verschlagenem Herzen, doppelzüngig.
Um wen es sich dabei handelte, konnte sie noch nicht sagen, aber sie glaubte - nein, sie wußte -, daß die Person, die aus Jims Zimmer geflohen war, das Haus hinterher wieder betreten hatte. Ihr fielen wieder die aufgeschnappten Worte ein. Sie kam zu der Überzeugung, daß die beiden Dinge miteinander in Verbindung standen, rügte sich aber prompt für diese dramatische Auslegung. Groß war die Versuchung, beides ad acta zu legen. Wie gewohnt weiterzumachen in der Hoffnung, daß es keine weiteren eigenartigen Vorfälle geben würde. Mit der Zeit verblaßte die Erinnerung gewiß. Möglicherweise war der Satz »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten« hier nicht ganz unpassend. Andererseits widersprach solch ein Verhalten dem Ethos der Kommune. Sinn und Zweck dieses Lebensstils war es schließlich, daß sich jedermann fortwährend um die Angelegenheiten der anderen kümmerte. Das war ihre Definition von Anteilnahme.
Und so kam es, daß Mays Gedanken immer wieder zu dem geheimnisvollen Schleicher und zu der mysteriösen Stimme zurückkehrten. Verdrießlich und in Gedanken versunken, hatte sie ihren Rock gebügelt. Mit einem Mal wirkten die Kamele mehr denn je wie das lebendige Abbild einer Karawane.
Wäre es ihr nur möglich gewesen, der Stimme, die mit dem Meister gesprochen hatte, ein Geschlecht zuzuordnen, dann hätte sie sich einfach einer Person des anderen Geschlechts anvertrauen können.
Einigermaßen ungehalten sprang May auf. Der Gedanke, daß etwas nicht stimmte und nicht in Ordnung gebracht werden konnte, war ihr schier unerträglich. Nervös ging sie auf und ab und rief stumm, aber voller Inbrunst Kwan-Yih an, die blasse Pfirsich-Meisterin, unter deren Führung und erhabener Schirmherrschaft sie seit einer Zauberzeremonie stand, die einen Korb mit Früchten, ein sauberes weißes Leinentuch und einen Scheck in beträchtlicher Höhe beinhaltet hatte. Im Gegensatz zu sonst gab sich Kwan-Yih, die bislang nie gezögert hatte, Ratschläge zu erteilen und perlmuttfarbene Strahlen zu senden, die Frische und Trost versprachen, heute nicht zu erkennen.
Arno harkte die dicken Bohnen und kämpfte mit einer paradoxen Frage. Es handelte sich um eine sehr schwierige paradoxe Frage, die ihm ursprünglich vom Zenmeister Bac An gestellt worden war. »Wie hört es sich an«, hatte der große Zauberer gefragt, »wenn eine Hand klatscht?«
Logisches Denken, das wußte Arno, brachte ihn in diesem Fall nicht weiter. Erleuchtung gemäß der Losung Bring dir selbst Satori bei, worüber es in der Bibliothek zahlreiche Bände unter der Rubrik Theo/Psych/Myth: Orientalische Untersektion 4:17 gab, war einem erst nach Monaten, vielleicht Jahren anstrengender Meditation und Reflexion vergönnt. Und das war noch längst nicht alles. Ein Anhänger muß jeden einzelnen Augenblick eines Tages im Auge behalten, stets in vollem Bewußtsein leben und sich voll und ganz bei jeder noch so gewöhnlichen Angelegenheit physisch, mental und spirituell ein-bringen. Arno hatte viele kleine Tricks entwickelt, um sich -wenn seine Aufmerksamkeit nachließ, was fast permanent der Fall war - wieder in die Gegenwart zurückzukatapultieren. Jetzt kniff er sich in den Arm, um nicht länger in den Tag hineinzuträumen und sich besser auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er schnappte den Griff, spürte das warme, glatte Holz, starrte intensiv auf die rostige Klinge und musterte kritisch die winzigen weißen Vogelnierenblümchen. Selbst die Staubblätter mit den dunklen Spitzen wurden gewissenhaft studiert.
All das tat Arno, ohne die geringste Zufriedenheit zu verspüren. Descartes’ These, die besagte, der Mensch sei Herr über und Besitzer der Natur, half ihm keinen Deut weiter. Weder verstand er den Garten, noch liebte er ihn. Irgendwie schien der Garten ihm Fallen zu stellen, war voller Brombeersträucher, an denen man hängenblieb, und verschwiegener, unter dichtem Gras versteckter Feuchtplätze. Und er war voller Insekten: Schnaken- und Maikäferlarven, Blutegel und Würmer. Alle labten sich an Arnos Gemüse, das - um die Wahrheit zu sagen - nicht gerade großartig gedieh. Ahnungslos, was die Beschaffenheit von Böden betraf, hatte er Möhren in Lehmboden ausgesät, Bohnen in feuchter Erde und Kartoffeln immer wieder an der gleichen Stelle.
Natürlich war er sich bewußt, daß landwirtschaftliche Ignoranz ausgemerzt werden konnte, und hatte sich irgendwann einmal ein Buch zu diesem Thema angeschafft. Es war ziemlich dick und strotzte nur so vor schwarzweißen Zeichnungen, die unglaublich perfekt Arnos klägliche, mickrige und schrumpelige Ernte illustrierten. Schon nach kurzer Zeit hatte der Inhalt Arno zu Tode gelangweilt, und bald war der dicke Wälzer auf Nimmerwiedersehen im Schuppen hinter Saatgut verschwunden.
Es versteht sich von selbst, daß Arno Einspruch erhob, als man ihm die Position des Gärtners übertrug, und dem Berufungskomitee versicherte, er verfüge über keinerlei Talent in dieser Richtung. Doch genau dies - wurde ihm geduldig erklärt - war der Grund für seine Ernennung. Seine eigenen Wünsche standen weder an zweiter noch an letzter Stelle, sondern wurden erst gar nicht in Betracht gezogen. Kein Hätscheln des Egos (dieses gemeine, hinterhältige Biest). Keine Wahl, nichts. In Würde zu wachsen war gleichbedeutend mit dem Zurückstellen eigener Interessen, und da gab es keinen leichten Weg, keine Abkürzung. Seufzend zupfte Arno das Kreuzkraut aus.
Nach einer Weile schwand sein Mißmut, zumal über die Wiesen, den Teich und den von Rhododendren gesäumten Weg eine einschmeichelnde Tonfolge schallte. Arno legte die Schaufel weg und widmete seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Musik, die die Königin seines Herzens spielte. Am meisten befürchtete Arno, infolge der Ausmerzung seines Egos auch noch seine Liebe zu May zu verlieren und seines zukünftigen Glücks beraubt zu werden.