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Ein diplomatischer Zwischenfall

 1.

»Ich bedauere außerordentlich -«, sagte Hercule Poirot.

Man unterbrach ihn; allerdings nicht grob, sondern zuvorkommend liebenswürdig, geschickt. Man versuchte ihn eher zu überreden, als ihm zu widersprechen.

»Bitte, lehnen Sie nicht von vornherein ab, Monsieur Poirot. Es geht hier um wichtige Staatsangelegenheiten. Ihre Mitarbeit wird in höchsten Kreisen Anerkennung finden.«

»Sie sind zu gütig«, winkte Hercule Poirot ab, »aber ich kann Ihrer Bitte auf keinen Fall Folge leisten. Während dieser Jahreszeit...«

Mr. Jesmond unterbrach ihn wieder. »Während der Weihnachtszeit...« Er suchte nach einem Köder. »Während eines traditionellen Weihnachtsfestes auf dem Lande...«

Hercule Poirot schüttelte sich. Die Vorstellung, die Weihnachtszeit in England auf dem Lande verbringen zu müssen, reizte ihn gar nicht.

»Ein schönes, geruhsames Weihnachtsfest«, wiederholte Jesmond noch einmal mit Nachdruck.

»Ich - ich bin kein Engländer«, antwortete Hercule Poirot. »Weihnachten ist in meiner Heimat ein Fest für Kinder. Wir Erwachsenen feiern hauptsächlich den Jahreswechsel.«

»Aha«, sagte Jesmond. »In England ist Weihnachten etwas ganz Besonderes. Ich verspreche Ihnen, Sie werden in Kings Lacey ein so schönes Weihnachtsfest erleben, wie Sie es noch nirgends besser erlebt haben. Wissen Sie, in einem wundervollen, alten Haus - ein Flügel des Hauses stammt sogar aus dem 14. Jahrhundert.«

Poirot schüttelte sich abermals. Der Gedanke an ein eng-lisches Herrenhaus aus dieser Zeit weckte unangenehme Erinnerungen in ihm. Er hatte zu oft in alten englischen Landhäusern gefroren. Er sah sich dankbar in seiner modern eingerichteten, gemütlichen Wohnung um. Hier gab es Heizöfen und die neuesten technischen Errungenschaften, die jegliche Zugluft verbannten. »Im Winter«, sagte er fest entschlossen, »bleibe ich in London.«

»Ich glaube, Sie sind sich nicht darüber im klaren, daß es sich um eine sehr wichtige Angelegenheit handelt, Monsieur Poirot.«

Jesmond sah seinen Begleiter an. Dann wandte er sich wieder Poirot zu. Dessen zweiter Besucher hatte bisher nur zwei höfliche, alltägliche Begrüßungsworte gemurmelt: »Guten Tag.« Er saß da und starrte auf seine gutgeputzten Schuhe. Äußerste Niedergeschlagenheit zeichnete sein kaffeebraunes Gesicht. Er war noch jung, nicht älter als dreiundzwanzig Jahre. Man sah ihm deutlich an, daß er sich elend fühlte.

»Ja, ja«, sagte Hercule Poirot. »Natürlich handelt es sich um eine ernste Sache. Ich beurteile die Lage durchaus richtig. Seine Hoheit können meines aufrichtigen Mitgefühls versichert sein.«

»Die Lage ist mehr als heikel.«

Poirot wandte seinen Blick von dem jungen Mann ab und blickte wieder dessen älteren Begleiter an. Hätte man Jes-mond mit einem Wort charakterisieren wollen, dann mit der Bezeichnung »zurückhaltend«. Alles an Jesmond war zurückhaltend - seine gutgeschnittene, unauffällige Kleidung; seine angenehm disziplinierte, geschulte Stimme, die selten ihren wohltuend-monotonen Klang veränderte; sein hellbraunes Haar, das sich an den Schläfen schon etwas lichtete; sein blasses, ernstes Gesicht.

»Wie Sie wissen«, erläuterte Poirot, »kann die Polizei sehr verschwiegen sein.«

Jesmond schüttelte energisch den Kopf.

»Nein, die Polizei auf keinen Fall! Um das - um das, was wir wiederhaben wollen, zurückzubekommen, wird es wohl unvermeidlich sein, Prozesse zu führen. Doch wir haben noch keine Handhabe. Wir hegen zwar einen bestimmten Verdacht, wissen aber nichts Genaues.«

»Seien Sie meines Mitgefühls versichert«, sagte Hercule Poirot noch einmal.

Wenn er annahm, daß sich seine beiden Besucher damit zufriedengeben würden, täuschte er sich. Sie wollten kein Mitgefühl, sie wollten praktische Hilfe. Jesmond begann erneut die Vorzüge eines englischen Weihnachtsfestes aufzuzählen.

»Ein wirklich traditionelles Weihnachtsfest wird nur noch selten gefeiert. Heute begehen viele Leute das Fest in Hotels. Ein Weihnachten aber - mit versammelter Familie, mit den Kindern, die sich mit ihren Strümpfen voller Geschenke beschäftigen, mit dem Christbaum, mit Truthahn und Plum-pudding, den Weihnachtsplätzchen und dem Schneemann draußen vor dem Fenster ...«

Hercule Poirot unterbrach ihn. Er liebte Genauigkeit.

»Um einen Schneemann zu bauen, braucht man Schnee«, sagte er mit ernster Miene. »Man kann selbst für ein wirklich englisches Weihnachtsfest keinen Schnee bestellen.«

»Ich sprach heute vormittag mit einem meiner Freunde aus dem meteorologischen Institut. Er erzählte mir, daß wir Weihnachten wahrscheinlich Schnee haben werden.«

Das hätte er nicht sagen sollen. Es schauderte Hercule Poi-rot noch heftiger als zuvor.

»Schnee auf dem Land! Das wäre ja furchtbar. Und dann noch in einem großen, uralten Herrenhaus aus Stein.«

»Das ist nicht schlimm. Es hat Zentralheizung. Man heizt mit Öl.«

»Es gibt in Kings Lacey eine Zentralheizung?« fragte Poirot.

Jesmond nutzte die Gelegenheit.

»Ja, bestimmt, es ist eine ausgezeichnete Warmwasserheizung. In jedem Schlafzimmer stehen Heizkörper. Ich versichere Ihnen, mein lieber Monsieur Poirot, Kings Lacey ist der Komfort schlechthin für den Winter. Es könnte sogar sein, daß es Ihnen zu warm wird.«

»Das ist unwahrscheinlich.«

Jesmond änderte das Thema. Erfahrung hatte ihn klug gemacht. In vertraulichem Ton fuhr er fort: »Sie können sicherlich verstehen, in welchem Dilemma wir uns befinden.«

Hercule Poirot nickte. Es war tatsächlich kein leichtes Problem ... Ein junger Thronanwärter war vor einigen Wochen nach London gekommen. Er war der einzige Sohn. Sein Vater regierte ein reiches, politisch wichtiges Land, in dem zur Zeit Unruhe und Unzufriedenheit herrschten. Obwohl die Untertanen dem Vater, der seine orientalischen Lebensgewohnheiten nicht ablegen konnte, die Treue hielten, hegten sie dem Sohn gegenüber ein gewisses Mißtrauen. Die Dummheiten, die er beging, waren kennzeichnend für seine westliche Erziehung und erregten öffentliches Mißfallen. Vor einiger Zeit hatte man seine Vermählung angekündigt. Er sollte eine Kusine heiraten. Sie war jung. Obwohl sie in Cambridge studiert hatte, vermied sie es, in ihrer Heimat westliche Einflüsse in ihrem Benehmen zu zeigen.

Nachdem der Tag der Hochzeit bekanntgegeben worden war, reiste der junge Prinz nach England. Er nahm einige berühmte Juwelen seines Hauses mit, um sie von der Firma Cartier umarbeiten zu lassen. Die Edelsteine sollten eine geeignete, moderne Fassung erhalten. Unter diesen Steinen befand sich auch ein sehr berühmter Rubin, den man aus einer schwerfälligen, altmodischen Halskette gelöst hatte. Durch die Kunst der Juweliere sollte der Stein ein völlig neues Aussehen erhalten. Soweit war alles in Ordnung. Schwierigkeiten traten erst später auf...

Daß sich ein reicher, fröhlicher, junger Mann ein paar amüsante Abenteuer leisten würde, hätte man sich denken können. Niemand hätte ihm das verübelt. Es wäre als natürlich und normal empfunden worden, wenn der Prinz mit einer Freundin die Bond Street entlanggebummelt wäre und ihr für die Freuden, die sie ihm gewährte, ein Smaragdarmband oder eine Brillantbrosche geschenkt hätte. Das entsprach den Cadillacs, die sein Vater jeweils seinen Geliebten schenkte. Der junge Prinz handelte aber viel unüberlegter. Er zeigte einer Dame, deren Interesse ihm schmeichelte, den Rubin in seiner neuen Fassung. Und der Prinz war so unklug, ihr die Bitte zu erfüllen, einen Abend lang das Schmuckstück tragen zu dürfen. Das Nachspiel war vorauszusehen und folgenschwer. Die Dame war während des Abendessens aufgestanden und hätte den Raum verlassen. Sie wollte sich angeblich nur die Nase pudern. Zeit war verstrichen, aber sie war nicht zurückgekommen. Sie hatte das Gebäude durch eine Hintertür verlassen. Seitdem war sie verschwunden - und mit ihr der Rubin.