Schreiber saß in der Nähe und schaute entsetzt zu. Ein Teil von ihm kam bald ein wenig näher, bald zog er sich wieder zurück. Er kämpfte mit sich und versuchte sich zu entschließen, ob er helfen sollte. Wanderer flehte ihn fast an, doch die Anstrengung war zu groß. Außerdem war Schreiber kein Pilger. Einen Teil von sich herzugeben war mehr, als Yaqueramaphan freiwillig zu tun vermochte…
Erinnerungen strömten nun auf ihn ein, Rums Bemühungen, die Dinge zu sortieren und den Rest von ihm alles wissen zu lassen, was vorher gewesen war. Einen Moment lang segelte er in einem Doppelrumpfboot über das Südmeer, eine Neukunft mit Rum als Welpe; Erinnerungen an die Inselperson, die Rum geboren hatte, und an Rudel davor. Einmal rund um die Welt waren sie gereist, hatten die Elendsquartiere eines tropischen Großkollektivs und den Krieg der Ebenenherden überlebt. Ah, die Geschichten, die sie gehört, die Tricks, die sie gelernt, die Leute, die sie getroffen hatten… Wic Kwk Rac Rum waren eine sagenhafte Kombination gewesen, mit klarem Kopf, leichtem Herzen und einer seltsamen Fähigkeit, alle Erinnerungen an Ort und Stelle zu halten; das war der wahre Grund gewesen, warum er so lange weitergemacht hatte, ohne auf fünf oder sechs anzuwachsen. Nun würde er wohl den größten Preis von allen zahlen…
Rum seufzte, und dann sah er den Himmel nicht mehr. Wickwrackrums Verstand schwand dahin, nicht wie in der Hitze des Gefechts, wenn der Klang des Denkens verloren geht, nicht, wie es im geselligen Murmeln des Schlafes geschieht. Da war plötzlich keine vierte Wesenheit mehr, nur noch die drei, die eine Person zu bilden versuchten. Das Trio stand da und tätschelte sich selbst nervös. Überall war Gefahr, die jedoch über sein Verständnis ging. Es trottete voller Hoffnung auf ein Sechssam in der Nähe zu — Yaqueramaphan? —, doch der andere scheuchte es weg. Es blickte nervös auf die Meute der Verwundeten. Dort lag Vollständigkeit… und Wahnsinn auch.
Ein großer Rüde mit tiefen Narben an der Hüfte saß am Rande der Meute. Er fing den Blick des Dreisams auf und kroch langsam über den freien Platz auf sie zu. Wic und Kwk und Rac scheuten zurück, ihre Felle sträubten sich vor Furcht und Faszination; der Narbige war mindestens anderthalbmal so schwer wie jeder von ihnen.
…Wo bin ich?… Darf ich Teil von dir sein… bitte? Seine Werbung enthielt Erinnerungen, wirr und fast unzugänglich, an Blut und Kämpfe, an militärische Ausbildung davor. Irgendwie hatte das Geschöpf vor diesen frühen Erinnerungen eine Angst, wie sie größer nicht sein konnte. Es presste sein Maul, von getrocknetem Blut verkrustet, an den Boden und robbte auf sie zu. Die drei anderen rannten beinahe, zufällige Vereinigung war etwas, das sie alle fürchteten. Sie wichen weiter und weiter zurück, hinaus aufs freie Feld. Der andere folgte, doch langsam, immer noch kriechend. Kwk leckte sich die Lippen, dann ging sie zurück zu dem Fremden. Sie streckte den Hals aus und schnüffelte an seiner Kehle entlang. Wic und Rac näherten sich von den Seiten.
Für einen Augenblick entstand eine teilweise Verbindung. Verschwitzt, blutig, verwundet — eine Mischung, in der Hölle gemacht. Der Gedanke schien aus dem Nichts zu kommen, glühte in den vier für einen Moment zynischen Humors. Dann war die Einheit verloren, und sie waren nur drei Tiere, die das Gesicht des vierten leckten.
Wanderer blickte sich auf der Wiese mit neuen Augen um. Er war nur ein paar Minuten lang zerfallen gewesen: Bei den Verwundeten von der Zehnten Angriffsinfanterie hatte sich nichts verändert. Flensers Diener waren immer noch mit der fremden Fracht beschäftigt. Yaqueramaphan wich langsam zurück, mit einem Ausdruck von Staunen und Schrecken zugleich. Wanderer senkte einen Kopf und zischte ihm zu: »Ich werde dich nicht verraten, Schreiber.«
Der Spion erstarrte. »Bist du es, Wanderer?«
»Mehr oder weniger.« Noch immer Wanderer, doch nicht länger Wickwrackrum.
»W-wie machst du das? Eben h-hast du noch…«
»Ich bin ein Pilger, weißt du nicht? Wir leben mit so etwas all unsere Leben lang.« In seiner Stimme lag Sarkasmus, das war mehr oder weniger das Klischee, das Yaqueramaphan zuvor von sich gegeben hatte. Doch es war etwas Wahres dran. Schon fühlte sich Wanderer Wickwrack…narb als Person. Vielleicht hatte diese neue Kombination eine Chance.
»Hmm… Tja, also… Was sollen wir jetzt tun?« Der Spion blickte nervös in alle Richtungen, doch in seinen auf Wanderer gerichteten Augen stand die größte Sorge.
Nun war die Reihe an Wickwracknarb, verwirrt zu sein. Was tat er hier eigentlich? Den sonderbaren Feind töten… Nein. Das hatte die Angriffsinfanterie getan. Er wollte nichts damit zu tun haben, egal, was die Erinnerung des Narbigen dazu besagte. Er und Schreiber waren hergekommen, um… den Fremden zu retten, soweit es möglich war. Wanderer griff nach der Erinnerung und hielt sie unkritisch fest, es war etwas Wirkliches, von der vergangenen Identität, die er bewahren musste. Er schaute in die Richtung, wo er das fremde Glied zuletzt gesehen hatte. Das Weißjack und seine Schleife waren nicht mehr in Sicht, doch es war offensichtlich, welchen Weg es genommen hatte.
»Wir können immer noch das Lebendige bekommen«, sagte er zu Yaqueramaphan.
Schreiber trat von einem Fuß auf den anderen und wich zur Seite. »Nach dir, mein Freund.«
Wickwracknarb rückte seine Kampfjacken zurecht und wischte etwas von dem getrockneten Blut ab. Dann stolzierte er über die Wiese, in gerade mal hundert Ellen Entfernung an den Flenser-Dienern vorbei, die den Feind — die das fliegende Haus umringten. Er salutierte zackig, was sie ignorierten. Yaqueramaphan folgte ihm mit zwei Armbrüsten. Er tat sein Bestes, um Wanderers Gang nachzuahmen, aber er war wirklich nicht der Kerl dazu.
Dann lag der taktische Horizont des Berges hinter ihnen, und sie stiegen in den Schatten hinab. Die Geräusche von den Verwundeten verstummten. Wickwracknarb verfiel in Schnellschritt und sprang von Serpentine zu Serpentine, als er den steilen Weg hinablief. Von hier aus konnte er den Hafen sehen; die Boote lagen noch an der Pier, und es war nicht viel Betrieb. Hinter ihm redete Schreiber nervösen Unsinn. Wanderer lief noch schneller, mit einem Selbstvertrauen, das von der allgemeinen Verwirrung der Neukunft gespeist wurde. Sein neues Glied, der Narbige, war der Muskel hinter einem Infanterieoffizier gewesen. Jenes Rudel hatte die Anordnung der Häfen und der Burg gekannt und alle Tagesparolen.
Noch zwei Kurven, und sie hatten das Weißjack mit seiner Schleife eingeholt. »Hallo!«, rief Wanderer. »Wir bringen neue Befehle von Fürst Stahl.« Ein Schauder lief über seine Rücken, als er sich zum ersten Mal an Stahl erinnerte. Der Diener ließ die Schleife los und wandte sich zu ihnen um. Wickwracknarb kannte seinen Namen nicht, erinnerte sich aber an den Burschen: ziemlich hoher Rang, ein arrogantes Luder. Es war überraschend, ihn die Schleife selbst ziehen zu sehen.
Wanderer blieb nur zwanzig Ellen vor dem Weißjack stehen. Yaqueramaphan schaute von der Serpentine darüber herab, seine Armbrüste waren nicht zu sehen. Der Diener blickte nervös auf Wanderer und zu Schreiber hinauf.
»Was wollt ihr beiden?«
Hatte er schon Verdacht geschöpft? Egal. Wickwracknarb wappnete sich für einen tödlichen Angriff… und plötzlich sah er vierfach, den Verstand vom Schwindelgefühl der Neukunft getrübt. Jetzt, da er töten musste, ließ ihn die Angst des Narbigen davor auseinanderfallen. Verdammt! Wickwracknarb suchte wild nach etwas, was er sagen könnte. Und nun, da der Mord ihm aus dem Sinn gekommen war, stellten sich seine neuen Erinnerungen bereitwillig ein.
»Fürst Stahls Wille ist, dass wir das Geschöpf zum Hafen bringen. Du, äh, du kannst zum fliegenden Ding des Eindringlings zurückkehren.«
Der Weißjack leckte sich die Lippen. Sein Blick glitt scharf über Wanderers Uniformen, und über die von Schreiber. »Betrüger!«, kreischte er und ließ im selben Augenblick eins seiner Glieder zur Schleife laufen. Metall funkelte in der Vorderpfote des Gliedes. Er will das Fremde töten!