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Das Nest töten.

Auf dem Kanonenwagen neben ihr war nur noch eins von Scrupilo geblieben, der gute alte Weißkopf. Närrisch wie eh und je, hatte es seine Kanoniersklappen heruntergezogen und schnüffelte unter dem Kanonenrohr herum. Das Nest töten. Vielleicht doch nicht so närrisch!

Johanna sprang auf den Wagen. Er rollte zurück auf den Abhang zu und stieß gegen einen Baum; sie nahm es kaum wahr. Sie zog den Kanonenlauf nach oben, ganz so, wie sie es bei den Übungen gesehen hatte. Das Weißköpfige zerrte am Pulversack, doch mit nur einem Paar Kiefer kam es nicht damit zurecht. Ohne den Rest seines Rudels hatte es weder Hände noch Verstand. Es schaute zu ihr auf, die Augen verzweifelt aufgerissen.

Sie griff nach dem anderen Ende des Sackes, und zu zweit kriegten sie das Pulver ins Rohr. Weißkopf tauchte wieder in die Ausrüstung und schnüffelte nach einer Kanonenkugel. Klüger als ein Hund, und ausgebildet. Vielleicht hatten sie zusammen doch eine Chance!

Gerade mal einen halben Meter unter ihren Füßen kamen die Wölfe angerannt. Mit einem oder zweien wäre sie selbst fertig geworden. Doch dort unten waren Dutzende, die einzelne Glieder anfielen und zerrissen. Drei von Pilger standen rings um Narbenhintern und die Welpen, doch ihre Verteidigung war ein gedankenloses Beißen. Das Rudel hatte seine Mundmesser und Klauen fallen lassen.

Zusammen mit Weißkopf brachte sie die Kugel in die Kanone. Weißkopf schnellte ans Ende der Kanone zurück und machte sich an dem kleinen Luntenfeuerzeug zu schaffen, das die Kanoniere benutzten. Es konnte in einem einzigen Mund gehalten werden, denn die Waffe wurde von einem einzelnen Glied abgefeuert.

»Warte, du Idiot!« Johanna stieß ihn mit einem Fußtritt zurück. »Wir müssen zielen!«

Einen Augenblick lang blickte Weißkopf beleidigt drein. Er verstand nicht recht, was sie von ihm wollte. Er hatte den Zündstock fallenlassen, hielt aber noch das Feuerzeug. Er entzündete die Flamme und drängte sich entschlossen nach hinten, versuchte, sich an Johannas Beinen vorbeizuschlängeln. Sie schob ihn wieder zurück und blickte hangaufwärts. Das dunkle Ding. Das muss das Nest sein. Sie schwenkte das Kanonenrohr und visierte an der Oberkante entlang. Ihr Gesicht kam nur ein paar Zentimeter neben den hartnäckigen Weißkopf und seine Flamme. Sein klappenbedeckter Kopf schoss vor, und die Flamme berührte das Zündloch.

Die Explosion hätte Johanna beinahe vom Wagen geschleudert. Einen Moment lang konnte sie an nichts anderes denken als an den stechenden Schmerz in den Ohren. Sie wälzte sich in eine sitzende Haltung herum und hustete vor Rauch. Sie konnte nichts außer einem hohen Klingeln hören, das immer weiterging. Ihr kleiner Wagen stand schräg, ein Rad hing überm Abgrund. Weißkopf zappelte unter dem Hinterteil der Kanone. Sie schob es von ihm weg und tätschelte den Kopf mit den Klappen. Er blutete — oder vielleicht war sie es. Sie blieb einfach ein paar Sekunden lang benommen sitzen, wunderte sich über das Blut und versuchte sich vorzustellen, wie sie hierher geraten war.

Eine Stimme irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie. Keine Zeit, keine Zeit. Sie zwang sich auf die Knie und blickte sich um, während sich quälend langsam die Erinnerungen wieder einstellten.

Hangaufwärts standen zersplitterte Bäume, das helle Holz schimmerte zwischen den Blättern. Dahinter, wo das Nest gewesen war, sah sie einen Flecken frisch aufgeworfener Erde. Sie hatten es ›getötet‹ , doch… der Kampf ging weiter.

Es gab noch Wölfe auf dem Pfad, doch nun waren sie es, die in alle Richtungen davonrannten. Sie sah Dutzende von ihnen über den Rand des Pfades auf die Bäume und Felsen unterhalb stürzen. Und die Klauenwesen kämpften jetzt wirklich. Pilger hatte seine Messer wieder aufgehoben. Die Klingen und seine Lippen trieften rot, während er schnitt. Etwas Graues und Blutendes flog über den Rand des Wagens und landete neben Johannas Bein. Der ›Wolf‹ konnte nicht länger als zwanzig Zentimeter sein, mit schmutzig graubraunem Fell. Er sah wirklich wie ein Kuscheltier aus, doch die winzigen Kiefer schnappten in mörderischer Absicht nach ihren Knöcheln. Johanna ließ eine Kanonenkugel auf ihn fallen.

In den nächsten drei Tagen, während Holzschnitzerins Leute sich bemühten, ihre Ausrüstung und sich selbst wieder beisammen zu bringen, erfuhr Johanna allerlei über die Wölfe. Was sie und Scrupilos Weißkopf mit der Kanone getan hatten, hatte den Angriff völlig zum Erliegen gebracht. Zweifellos hatten sie mit der Vernichtung des Nests viele Leben und den Feldzug selbst gerettet. Die ›Wölfe‹ waren eine Art Tierstaat, den Rudeln nur in wenigem ähnlich. Die Rasse der Klauenwesen benutzte das Gruppendenken, um hohe Intelligenz zu erreichen; Johanna hatte niemals ein Rudel mit mehr als sechs Gliedern gesehen. Das Wolfsnest kümmerte sich nicht um hohe Intelligenz. Holzschnitzerin behauptete, dass ein Nest Tausende von Gliedern haben konnte — jenes, auf das sie gestoßen waren, war jedenfalls groß gewesen. Solch eine Meute konnte nicht so klug wie ein Mensch sein. Was die reine Denkkraft anging, war es wohl nicht viel klüger als ein einzelnes Rudelglied. Andererseits konnte es weitaus flexibler sein. Wölfe vermochten in großer Entfernung selbständig zu handeln. Im Umkreis von hundert Metern vom Heimatnest waren sie Anhängsel der ›königlichen‹ Glieder des Nests, und niemand zweifelte dann an ihrer Zugehörigkeit zu den Hundeartigen. Pilger kannte Legenden von Nestern mit fast rudelgleicher Intelligenz, von Förstern, die mit nahegelegenen Nestern Pakte abschlossen, wobei Nahrung gegen Schutz getauscht wurde. Solange die intensiven Geräusche im Nest anhielten, konnten die Arbeitswölfe fast wie Rudelglieder zusammenwirken. Doch man brauchte nur das Nest zu töten, und das Geschöpf zerfiel wie ein billiges Netzwerk mit Zentraltopologie.

Gewiss hatte dieses Nest Holzschnitzerins Armee allerhand angetan. Es hatte still abgewartet, bis die Soldaten im Bereich seiner größten Lautstärke waren. Dann hatten weiter draußen postierte Wölfe mit Hilfe synchronisierter Mimikry akustische ›Geister‹ erzeugt und die Rudel dazu gebracht, sich vom Nest abzuwenden und sinnlos in die Bäume zu schießen. Und als der eigentliche Überfall begann, hatte das Nest konzentrierte Verwirrung auf die Klauenwesen herabgeschrien. Dieser Angriff war weitaus mächtiger gewesen als der ›akustische Gestank‹ , dem sie in anderen Teilen des Waldes begegnet waren. Für die Klauenwesen waren die Stinker schmerzhaft laut und manchmal sogar furchteinflößend gewesen, aber nicht zu vergleichen mit dem den Verstand zerstörenden Chaos, mit dem das Wolfsnest angriff.

Mehr als hundert Rudel waren von dem Hinterhalt außer Gefecht gesetzt worden. Manche, größtenteils Rudel mit Welpen, hatten sich zusammengeballt. Andere, wie Scrupilo, waren ›zersprengt‹ worden. In den Stunden nach dem Überfall schleppten sich viele von diesen Fragmenten zurück und vereinigten sich wieder. Die betroffenen Klauenwesen waren erschüttert, doch unverletzt. Intakte Soldaten durchstreiften die Waldhänge auf und ab nach verletzten Gliedern ihrer Kameraden. An manchen Stellen fiel das Gelände neben dem Pfad zwanzig Meter tief ab. Wo ihr Fall nicht von Baumzweigen gedämpft worden war, waren die Glieder auf nackten Felsen aufgeschlagen. Fünf wurden schließlich tot gefunden, und weitere zwanzig ernstlich verletzt. Zwei Wagen waren abgestürzt. Sie waren nur noch Brennholz, und ihre Cherhogs zu schwer verletzt, um überleben zu können. Man konnte von Glück reden, dass der Kanonenschuss keinen Waldbrand entfacht hatte.

Dreimal zog die Sonne ihre schnelle, schräge Runde am Himmel. Holzschnitzerins Armee erholte sich in einem Lager in den Tiefen des Talwaldes am Fluss. Feilonius hatte am Nordhang Späher mit Signalspiegeln postiert. Der Ort war etwa so sicher wie jeder andere, den sie so weit im Norden finden konnten. Gewiss war er einer der schönsten. Er bot nicht die Aussichten des Höhenwaldes, dafür gab es das Geräusch des nahen Flusses, so laut, dass es das Seufzen des trockenen Windes übertönte. Die Bäume des Tieflandes hatten keine Wurzelblumen, dennoch unterschieden sie sich von dem, was Johanna kannte. Es gab kein Unterholz, nur weiches, bläuliches ›Moos‹ , von dem Pilger behauptete, dass es eigentlich ein Teil der Bäume sei. Es erstreckte sich wie ein gemähter Rasen bis ans Flussufer.