Von oben her erklang das Schnellen einer Bogensehne, und der Läufer fiel, einen Pfeilschaft im Auge. Wickwracknarb griff die anderen an und zwang dabei sein narbiges Glied nach vorn. Für einen Moment schwindelte ihn, dann war er wieder ganz und schrie den vieren Tod entgegen. Die beiden Rudel prallten aufeinander, und Narb stieß zwei Glieder des Dieners über den Rand des Weges. Pfeile summten rings um sie. Wic Kwk Rac wirbelten herum und hieben Äxte gegen alles, was noch stehen blieb.
Dann war es still, und Wanderer fand seine Gedanken wieder. Drei von den Gliedern des Dieners zuckten auf dem Weg, die Erde rings um sie glitschig von Blut. Er warf sie über den Rand, nahe der Stelle, wo Narb die anderen getötet hatte. Nicht eins von dem Diener hatte überlebt, es war vollständiger Tod, und er war dafür verantwortlich. Er sackte zu Boden und sah wieder vierfach.
»Das Fremde. Es ist noch am Leben«, sagte Schreiber. Er stand um die Schleife und schnüffelte an dem pfahlähnlichen Körper. »Allerdings bewusstlos.« Er fasste die Schleifenstangen mit seinen Kiefern und schaute Wanderer an. »Was… was nun, Pilger?«
Wanderer lag im Schmutz und versuchte seinen Verstand zu sammeln. In der Tat, was nun. Wie war er in diesen Schlamassel geraten? Die Verwirrung der Neukunft war die einzige Erklärung. Er hatte einfach alle Gründe aus dem Auge verloren, die es unmöglich machten, das Fremde zu retten. Und nun hatte er es am Halse. Rudelscheiße. Ein Teil von ihm kroch zum Rand des Weges und schaute sich um. Nichts deutete darauf hin, dass sie aufgefallen waren. Im Hafen lagen die Boote noch leer, der größte Teil der Infanterie war oben in den Bergen. Zweifellos verwahrten die Diener die toten Glieder in der Hafenfestung. Wann würden sie sie also über die Meerenge zur Verborgenen Insel schaffen? Warteten sie auf die Ankunft dieses Gliedes?
»Vielleicht könnten wir uns ein Boot greifen, nach Süden entkommen«, sagte Schreiber. Wusste er denn nicht, dass Postenketten rings um den Hafen stehen würden? Selbst wenn sie die Parolen kannten, würde man sie melden, sobald sie einen der Posten passierten. Die Chancen standen eins zu einer Million. Aber es war schlechthin unmöglich gewesen, bevor Narb ein Teil von ihm geworden war.
Er musterte das Geschöpf, das auf der Schleife lag. So seltsam und doch wirklich. Und es war mehr als nur das Geschöpf, obwohl dessen Fremdheit am meisten ins Auge fiel. Seine blutige Kleidung war von feinerem Gewebe, als der Pilger jemals gesehen hatte. Neben dem Körper des Geschöpfs steckte ein rosa Kissen mit kunstvoller Stickerei in der Schleife. Mit einer Wende des Blickpunktes erfasste er, dass es fremde Kunst war, das Gesicht einen Tiers mit langer Schnauze, auf das Kissen gestickt.
Die Chancen, durch den Hafen zu entkommen, standen eins zu einer Million; mancher Preis mochte solch ein Risiko wert sein.
»… Wir werden noch ein Stück weiter hinabgehen«, sagte er.
Yaqueramaphan zog die Schleife. Wickwracknarb schritt neben ihm her und versuchte, wichtig und offiziersmäßig auszusehen. Mit Narb war das nicht schwer. Das Glied war ein Muster an militärischer Fähigkeit, man musste in ihm stecken, um die Weichheit zu kennen.
Sie waren fast bis zum Meeresspiegel hinabgestiegen.
Der Weg war jetzt breiter und roh gepflastert. Er wusste, dass die Hafenfestung über ihnen lag, von den Bäumen verdeckt. Die Sonne hatte den Norden verlassen und stieg in den Osthimmel. Blumen blühten überall, weiß und rot und violett, ihr Duft lag schwer im Wind — die arktische Pflanzenwelt nutzt gern die Vorzüge ihres langen Sommers. Wenn man über das sonnengesprenkelte Kopfsteinpflaster ging, konnte man beinahe den Überfall auf der Hügelkuppe vergessen.
Sehr bald trafen sie auf eine Postenkette. Ketten und Ringe sind interessante Leute, keine großen Leuchten, aber so ziemlich die größten funktionsfähigen Rudel, die man außerhalb der Tropen antrifft. Es gab Geschichten über zehn Meilen lange Ketten mit Tausenden von Gliedern. Die größte, die Wanderer jemals gesehen hatte, hatte weniger als hundert gezählt: Man nimmt eine Gruppe gewöhnlicher Leute und trainiert sie, auszuschwärmen, nicht in Rudeln, sondern als Einzelglieder. Wenn jedes Glied nur ein paar Ellen von seinen nächsten Nachbarn entfernt blieb, konnten sie so etwas wie den Geist eines Trios bewahren. Die Gruppe als Ganzes war kaum intelligenter — man kann nicht sonderlich tiefe Gedanken haben, wenn eine einzelne Idee Sekunden braucht, sich durch den Verstand auszubreiten. Aber die Kette hatte einen hervorragenden Überblick, was auf ihrer ganzen Länge geschah. Und wenn eins von ihren Mitgliedern angegriffen wurde, erfuhr es die ganze Kette mit Schallgeschwindigkeit. Wanderer hatte schon in Ketten gedient, es war ein zerflossenes Dasein, aber nicht annähernd so öde wie gewöhnlicher Wachdienst. Man konnte sich kaum langweilen, wenn man so stumpfsinnig wie eine Kette war.
Da! Ein einzelnes Glied reckte den Hals hinter einem Baum hervor und rief sie an. Wickwracknarb kannte natürlich die Parole, und sie durchquerten die äußere Kette. Aber die Passage und ihre Beschreibung waren jetzt der ganzen Kette bekannt — und bald auch gewöhnlichen Soldaten in der Hafenfestung.
Zum Teufel. Er konnte nichts dagegen tun, er würde dem verrückten Plan weiter folgen. Er und Schreiber und das fremde Glied passierten die beiden inneren Posten. Er konnte jetzt das Meer riechen. Sie kamen zwischen den Bäumen hervor zu dem steinummauerten Hafen. Silber glitzerte auf dem Wasser in einer Million unsteter Flecke. Ein großes Multiboot schaukelte zwischen zwei Piers. Seine Masten waren wie ein Wald von schrägen, laublosen Bäumen. Nur eine Meile jenseits des Wassers konnten sie die Verborgene Insel sehen. Ein Teil von ihm tat den Anblick als ganz gewöhnlich ab, ein Teil stockte vor Furcht. Das war das Zentrum der weltweiten Flenser-Bewegung. Dort oben in jenen abweisenden Türmen hatte der ursprüngliche Flenser seine Experimente durchgeführt, seine Aufsätze geschrieben — und Pläne für die Weltherrschaft geschmiedet.
Es waren wenig Leute auf den Piers. Die meisten waren mit Wartungsarbeiten beschäftigt: Segel nähen, Doppelrümpfe wieder festzurren. Sie beobachteten die Schleife mit gespannter Neugier, doch keiner kam näher. Wir brauchen also weiter nichts zu tun, als bis ans Ende einer Pier zu schlendern, die Leinen eines außen liegenden Doppelrumpfes zu durchschneiden und loszusegeln. Es gab wahrscheinlich allein auf der Pier genug Rudel, um das zu verhindern — und ihre Schreie würden gewiss die Soldaten herbeirufen, die sie in der Nähe der Hafenfestung sahen. Eigentlich war es etwas überraschend, dass dort oben noch niemand ernsthaft von ihnen Notiz genommen hatte.
Diese Boote waren gröber gebaut als die Version der Südmeere. Zum Teil war der Unterschied oberflächlich: Die Flenser-Lehre verbot nutzlose Verzierungen an Booten. Zum Teil war er in der Funktion begründet: Diese Fahrzeuge waren für den Einsatz im Sommer wie im Winter konstruiert, und zum Übersetzen von Truppen. Doch er war sich sicher, dass er sie steuern könnte, wenn er nur die Gelegenheit dazu erhielte. Er ging ans Ende der Pier. Hmm. Sie hatten Glück. Der Doppelrumpf, der den Bug-Steuerbord-Teil des Multibootes bildete, gleich rechts von ihm an der Pier, sah schnell und wohlversorgt aus. Es war vermutlich ein Boot für Fernerkundung.
»Psst. Da oben ist etwas im Gange.« Schreiber wies mit einem Kopf zur Festung hin.
Die Soldaten stellten sich in Formation auf — ein Massensalut? Fünf Diener schwärmten vor der Infanterie aus, und Hörner erschallten von den Türmen der Festung. Narb hatte dergleichen schon gesehen, doch Wanderer traute der Erinnerung nicht. Wie konnte…
Ein rot-gelbes Banner stieg über der Festung auf. Auf den Piers warfen sich Soldaten und Bootsarbeiter auf die Bäuche. Wanderer warf sich ebenfalls hin und zischte dem anderen zu: »Runter!«