»Ihr seid auf zweitausend Meter«, erklang Ravnas Stimme. »Jefri sagt, dass er euch sehen kann.«
»Schalte mich zu ihnen durch.«
»Ich werde es versuchen, Herr Pham.« Blaustiel fummelte herum, und sein Mangel an Aufmerksamkeit ließ das Boot einen kompletten Looping vollführen. Pham hatte Blätter gesehen, die geordneter gefallen waren.
Eine schrille Kinderstimme: »Alles in Ordnung? Stürzt nicht ab!«
Und dann die von dem Rudel Stahl hervorgebrachte Mischung aus Ravnas und der Kinderstimme: »Gehen nach Süden! Gehen nach Süden! Feuerkanone benutzen. Schnell sie verbrennen.«
Blaustiel hatte sie schon in den Rauch hinabgebracht. Sekundenlang flogen sie blind. Eine Lücke im Rauch ließ den Berghang in weniger als zweihundert Meter Entfernung erkennen, und er kam rasch näher. Noch ehe Phan fluchen konnte, hatte Blaustiel gewendet und das Boot in klarere Luft geflogen. Dann neigte er das Boot, sodass sie direkt nach unten schauen konnten.
Nach dreißig Wochen Reden und Planen sah Pham zum ersten Mal die Klauenwesen. Selbst von hier aus war offensichtlich, dass sie sich von allen anderen vernunftbegabten Wesen unterschieden, denen Pham begegnet war: Haufen von vier oder fünf oder sechs Gliedern hingen so eng zusammen, dass sie wie ein einziges spinnenähnliches Wesen wirkten. Und jedes Rudel stand von den anderen zehn, fünfzehn Meter entfernt.
Ein Geschütz blitzte im Rauch auf. Das Rudel, das es bediente, bewegte sich wie eine einzige, koordinierte Person, um die Lafette zurückzuschieben und eine neue Ladung in die Mündung zu stopfen.
»Aber wenn das der Feind ist, Herr Pham, woher haben sie dann die Kanonen?«
»Gestohlen.« Aber Vorderlader? Er hatte keine Zeit, den Gedanken zu verfolgen.
»Du bist genau über ihnen, Pham! Ich sehe dich zwischen dem Rauch. Ihr treibt mit fünfzehn Metern pro Sekunde nach Süden und verliert an Höhe.« Es war der Junge, der wie üblich mit unglaublicher Präzision sprach.
»Töte sie! Töte sie!«
Pham wand sich aus seinen Gurten und kroch nach hinten zur Luke, wo sie seine Strahlenkanone montiert hatten. Das war so ziemlich das Einzige, was sie aus dem Feuer in der Werkstatt gerettet hatten, aber bei Gott, das war etwas, womit er umgehen konnte.
»Halt uns ruhig, Blaustiel. Wenn du ruckst, kriegst du garantiert selber was ab!« Er stieß die Luke auf und erstickte fast an scharfem Qualm. Dann trugen Blaustiels Agravs sie in freien Raum, und Pham richtete den Strahler hinab auf die Reihen der Rudel.
Ursprünglich hatte Holzschnitzerin verlangt, dass Johanna im Basislager zurückblieb. Johanna hatte mit einem Ausbruch geantwortet. Selbst jetzt war das Mädchen ein wenig von sich selbst überrascht. Seit den ersten Tagen auf der Klauenwelt war sie nicht mehr so nahe daran gewesen, ein Rudel anzugreifen. Es kam nicht in Frage, dass jemand sie daran hinderte herauszufinden, wie es um Jefri stand. Schließlich hatten sie einen Kompromiss geschlossen: Johanna würde Pilger als ihren Wächter akzeptieren. Sie konnte mit der Armee ins Feld gehen, solange sie seine Anweisungen befolgte.
Johanna schaute durch den dahintreibenden Rauch bergauf. Verdammt. Pilger war immer so ein sorgloser Spaßvogel. Nach seinen eigenen Worten hatte er sich in all den Jahren immer wieder umbringen lassen. Und nun wollte er sie nicht einmal hinaus zu Scrupilos Kanonen lassen. Sie schritten beide über eine Terrasse am Berghang. Das Feuer hatte das Unterholz hier vor Stunden durchlaufen, und der würzige Geruch von Moosasche lag schwer in der Luft. Und mit diesem Geruch kam die grelle Erinnerung an den Schrecken vor einem Jahr, am selben Ort…
Vertrauenswürdige Wachrudel schritten zu beiden Seiten in zwanzig Meter Entfernung neben ihnen. Dieses Gebiet war vermutlich frei von Partisanen, und von den Flenseristen war seit Stunden kein Artilleriefeuer ausgegangen. Doch Wanderer weigerte sich entschieden, sie noch näher heranzulassen.
Es ist ganz anders als voriges Jahr. Damals war alles sonniger blauer Himmel und saubere Luft gewesen — und der Mord an ihren Eltern. Jetzt waren sie und Pilger zurückgekehrt, und der blaue Himmel war graugelb und der moosbedeckte Hang schwarz. Und jetzt kämpften die Rudel rings um sie zusammen mit ihr. Und jetzt gab es eine Chance…
»Lass mich näher, verdammt! Holzschnitzerin wird den Rosa Olifanten haben, egal, was mit mir geschieht.«
Wanderer schüttelte sich, eine Verneinung der Klauenwesen. Einer von seinen Welpen langte aus einer Jackentasche nach ihrem Ärmel. »Noch eine kleine Weile«, sagte Pilger zum zehnten Mal. »Warte auf Holzschnitzerins Boten. Dann können wir…«
»Ich will da oben sein! Ich bin die Einzige, die das Schiff kennt!« Jefri, Jefri. Wenn Feilonius nur Recht gehabt hat…
Sie fuhr gerade herum, um Narbenhintern einen Klaps zu geben, als es geschah. Eine Hitzewelle brannte auf ihrem Rücken, und der Rauch leuchtete hell auf. Wieder. Wieder. Und dann der Aufprall schnellen Donners, der über den Himmel schritt.
Pilger bebte an ihrer Seite. »Das ist kein Geschützfeuer!«, rief er. »Zwei von mir sind fast geblendet. Weiter!« Er umringte sie und warf sie fast um, als er sie hangabwärts zog und schob.
Einen Moment lang ging Johanna mit, eher betäubt als willig. Irgendwie hatten sie ihre Eskorte verloren.
Von oben am Berg her klangen keine Schlachtrufe mehr. Der scharfe Donner hatte alles verstummen lassen. Wo der Rauch dünner wurde, konnte sie eine von Scrupilos Kanonen sehen, deren Lauf aus einem Tümpel geschmolzenen Stahls ragte. Der Kanonier war in Stücke gerissen worden. Kein Geschützfeuer. Johanna riss sich aus Pilgers Griff los. Kein Geschützfeuer.
»Raumler! Pilger, das muss ein Raketentriebwerk sein.«
Wanderer ergriff sie wieder und lief weiter hinab. »Kein Raketentriebwerk! Das habe ich gehört. Das hier ist leiser — und jemand zielt damit.«
Es war ein langes Stottern einzelner Feuerstöße gewesen. Wie viele von Holzschnitzerins Leuten waren soeben umgekommen? »Sie müssen glauben, dass wir das Schiff angreifen. Wenn wir nichts unternehmen, werden sie uns restlos auslöschen.«
Seine Kiefer lockerten ihren Griff an ihren Ärmeln und Hosenbeinen. »Was können wir tun? Wenn wir hierbleiben, werden wir bloß getötet.«
Johanna starrte zum Himmel. Keine Spur von Fliegern, doch da war so viel Rauch. Die Sonne war eine blasse blutige Kugel. Wenn die Retter nur wüssten, dass sie ihre Freunde umbrachten. Wenn sie nur sehen könnten… Sie stemmte die Füße in den Boden. »Wenn ich an eine Stelle kommen kann, wo sie mich sehen… Lass mich los, Pilger! Ich gehe den Berg hinauf, aus dem Rauch heraus.«
Er war stehen geblieben, hielt sie aber fest im Griff. Vier erwachsene Gesichter und zwei von Welpen schauten zu ihr auf, und Ratlosigkeit stand in jedem Blick. »Bitte, Pilger. Es geht nicht anders.« Rudel kamen den Hang herab gewankt, manche blutend, andere als Fragmente.
Seine furchterfüllten Augen starrten sie noch einen Moment lang an. Dann ließ er sie los und berührte ihre Hand mit einer Nase. »Ich glaube, dieser Berg wird immer mein Tod sein. Zuerst Schreiber, jetzt du — ihr seid alle verrückt.« Pilgers altes Lächeln huschte über seine Glieder. »Gut. Versuchen wir’s!« Die beiden ohne Welpen gingen den Hang hinan und suchten nach dem sichersten Weg.
Johanna und seine übrigen folgten. Sie gingen über eine gewundene Terrasse. Die Dürre des Sommers hatte das kalte Bodenwasser austrocknen lassen, an das sie sich von der Landung her erinnerte, und das geschwärzte Moos lag fest unter ihr. Es hätte leicht sein müssen, hier zu gehen, doch Wanderer schlängelte sich durch die tiefsten Bodensenken und hockte sich alle paar Sekunden hin, um in sämtliche Richtungen zu spähen. Sie erreichten das Ende der Terrasse und begannen zu klettern. Manche Stellen waren so steil, dass sie nach den Schulterbügeln an zweien von Wanderer greifen und sich von ihm hinaufziehen lassen musste. Sie kamen an der nächsten Kanone vorüber — was davon übrig war. Johanna hatte dergleichen nie gesehen, außer in Geschichten, doch die Metallspritzer und das verkohlte Fleisch daneben konnten nur eine Art Strahlenwaffe bedeuten. Über die Bergflanke liefen ebensolche Krater, in das bereits verbrannte Land eingestanzte Zerstörung.