Scrupilo wusste, dass das nicht sein konnte. Er wandte alle Köpfe, um den Berghang hinab nach Ravna Bergsndots Sternenschiff zu schauen. Er schätzte die heilgebliebenen Antriebsdorne auf hundert Meter Länge. Der Rumpf selbst maß mehr als einhundertundzwanzig. Er setzte sich rings um das Datio hin und zog sein gefüttertes Olifanten-Gesicht auf. Das Datio wusste eine Menge über Raumschiffe. Dieses Schiff hier war keine Konstruktion von Menschen, doch die allgemeine Form war ziemlich weit verbreitet; er wusste das von seiner früheren Lektüre. Zwanzig- oder dreißigtausend Tonnen, ausgerüstet mit Antigravitationskissen und Überlichtantrieb. Alles sehr gewöhnlich für das Jenseits… Aber es hier zu sehen, mit den Augen seiner eigenen Glieder! Scrupilo konnte den Blick nicht davon losreißen. Drei von ihm arbeiteten am Datio, während die anderen beiden den schimmernden grünen Rumpf anschauten. Die Soldaten und Geschützwagen um ihn her verblassten zur Belanglosigkeit. Bei all seiner Masse schien das Schiff sanft auf dem Berghang zu ruhen. Wie lange wird es dauern, bis wir so etwas bauen können? Ohne Hilfe von außen Jahrhunderte, behaupteten die Geschichten im Datio. Was würde ich nicht für einen Tag an Bord geben!
Und dennoch wurde dieses Schiff von etwas Mächtigerem gejagt. Scrupilo erschauderte in der Sommersonne. Er hatte oft genug Pilgers Erzählung von der ersten Landung gehört, und er hatte die Strahlenwaffe der Menschen gesehen. Im Datio hatte er viel über planetenknackende Bomben und die anderen Waffen des Jenseits gehört. Während er an Holzschnitzerins Geschützen arbeitete — den besten Waffen, die er zustande bringen konnte —, hatte er geträumt und sich Fragen gestellt. Bis er das Sternenschiff in der Höhe hatte schweben sehen, hatte er im Grunde seiner Herzen niemals vollends die Wirklichkeit empfunden. Nun tat er es. Eine Flotte von Mördern jagte also Ravna Bergsndot hinterher. Die Stunden der Welt mochten wahrlich gezählt sein. Er tastete rasch durch die Suchpfade des Datios, auf der Suche nach Artikeln über Raumschiffsteuerung. Wenn nur noch Stunden bleiben, dann lerne wenigstens, soviel die Zeit noch erlaubt.
Also verlor sich Scrupilo in den Klängen und Bildern des Datios. Er hatte drei Fenster geöffnet, jedes über einen anderen Aspekt der Pilotenwissenschaft.
Laute Rufe vom Berghang her. Er schaute mit einem Kopf auf, eher irritiert als sonst etwas. Es war kein Gefechtsalarm, was sie riefen, nur ein allgemeines Unbehagen. Seltsam, die Nachmittagsluft wirkte angenehm kühl. Zwei von ihm blickten empor, doch da war kein Dunst. »Scrupilo! Schaut nur, schaut!«
Seine Kanoniere sprangen in Panik umher. Sie deuteten zum Himmel… zur Sonne. Er faltete die rosa Deckel über dem Gesicht des Datios zusammen und blinzelte gleichzeitig in Richtung Sonne. Die Sonne stand noch hoch im Süden, blendend hell. Doch die Luft war kühl, und die Vögel machten die gurrenden Laute, mit denen sie bei tiefer Sonne ins Nest flogen. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er geradewegs in die Sonnenscheibe blickte, schon seit fünf Sekunden — ohne dass ihm die Augen schmerzten oder auch nur tränten. Und immer noch war kein Dunst zu sehen. Eine innere Kälte breitete sich in seinem Denken aus.
Das Sonnenlicht verblasste. Er konnte schwarze Stellen auf der Oberfläche erkennen. Sonnenflecken. Er hatte sie oft genug mit Schreibers Fernrohren gesehen. Damals aber durch dichte Filter hindurch. Etwas stand zwischen ihm und der Sonne, etwas, das ihr Licht und ihre Wärme aufsog.
Die Rudel am Hang stöhnten. Es war ein Angstlaut, wie Scrupilo ihn niemals in der Schlacht gehört hatte, der Laut von jemandem, der sich einem Schrecken jenseits allen Verständnisses gegenübersieht.
Das Blau erlosch am Himmel. Auf einmal war die Luft kalt wie mitten in finsterer Nacht. Und die Farbe der Sonne war eine graue Lumineszenz, wie ein verblasster Mond. Weniger. Scrupilo presste sich mit den Bäuchen an den Erdboden. Manche von ihm pfiffen tief in der Kehle. Waffen, Waffen. Aber davon stand nie etwas im Datio.
Die Sterne waren das hellste Licht über dem Berghang.
»Pham, Pham. Sie werden in einer Stunde hier sein. Was hast du getan?« Ein Wunder, aber ein verderbenbringendes?
Pham Nuwen wiegte sich in der strahlenden Umarmung des GEGENMITTELS. Seine Stimme klang fast normal, die Gottsplitter wichen zurück. »Was habe ich getan? N-nicht viel. Und mehr als jede MACHT. Selbst der ALTE hat es nur geahnt, Ravna. Das Ding, das die Straumer hierher gebracht haben, ist der Fahrermythos. Wir — ich, es — haben nur die Zonengrenze zurückgeschoben. Eine lokale Veränderung, aber intensiv. Wir befinden uns jetzt in der Entsprechung des Hohen Jenseits, vielleicht sogar des Unteren Transzens. Darum kommt die Pestflotte so schnell voran.«
»Aber…«
Pilger kehrte von der Luke zurück. Er unterbrach Ravnas zusammenhanglose Panik mit einem sachlichen »Die Sonne ist eben erloschen.« Seine Köpfe wippten mit einem Ausdruck, den sie nicht deuten konnte.
Pham antwortete: »Das geht vorbei. Irgendwo muss die Energie für dieses Manöver herkommen.«
»W-warum, Pham?« Selbst wenn die PEST gewiss siegt, warum ihr helfen?
Das Gesicht des Mannes wurde leer, Pham Nuwen verschwand fast unter den anderen Programmen, die in seinem Verstand abliefen. Dann: »Ich… bündle gerade das GEGENMITTEL. Ich sehe jetzt, das GEGENMITTEL, was es ist… Es ist von etwas jenseits der MÄCHTE geschaffen worden. Vielleicht gibt es die Wolkenbewohner, vielleicht erhalten sie jetzt Signale. Oder vielleicht ist das, was gerade geschieht, wie ein Insektenstich, etwas, das eine viel größere Reaktion auslöst. Der Grund des Jenseits hat sich gerade zurückgezogen, wie die Wasserlinie vor einem Tsunami.« Das GEGENMITTEL glühte rotorange, seine Bögen und Fäden umklammerten Pham enger als zuvor. »U-und jetzt, wo wir uns selbst in eine anständige Zone hinaufgezogen haben…, kann wirklich etwas geschehen. Oh, der Geist des ALTEN ist amüsiert. Einen Blick hinter die MÄCHTE zu werfen, war es fast wert, dafür zu sterben.«
Die Flottenanzeigen strömten über Ravnas Handgelenk. Die PEST kam noch schneller als zuvor. »Fünf Minuten, Pham.« Obwohl sie noch dreißig Lichtjahre entfernt waren.
Lachen. »Oh, die PEST weiß es auch. Ich sehe, dass es das ist, was sie die ganze Zeit über gefürchtet hat. Das ist es, was sie in jenen vergangenen Äonen getötet hat. Sie stürmt nun voran, aber es ist zu spät.« Das Glühen wurde heller, die Lichtmaske, die Phams Gesicht war, schien sich zu entspannen. »Etwas sehr… weit… Entferntes hat mich gehört, Rav. Es kommt.«
»Was? Was kommt?«
»Die Flutwelle. So groß. Dagegen wirkt das, was uns getroffen hat, wie ein sanftes Plätschern. Das ist die Flut, an die niemand glaubt, weil niemand übrig bleibt, um sie aufzuzeichnen. Der Grund wird unter den Füßen weggeschlagen.«
Plötzliches Begreifen. Plötzliche wilde Hoffnung. »Und sie werden da draußen in der Falle sitzen, nicht wahr?« Also hatte Kjet Svensndot nicht vergebens gekämpft, und Phams Rat war kein Unsinn gewesen: Es gab jetzt in der Pestflotte keinen einzigen Staustrahlantrieb.