Nach einer Weile verließen sie sie. Es fehlte ihnen nicht an Mitgefühl, aber es gab zu viel an Katastrophen und Fremdartigkeit und Notfällen. Da waren die Verwundeten. Da war die Möglichkeit eines Gegenangriffs. Da waren die gewaltige Verwirrung und ein dringender Bedarf an Ordnung. Auf sie machte all das kaum einen Eindruck. Sie war am Ende ihres langen verzweifelten Laufs, mit all ihrer Kraft am Ende.
Ravna musste einen Großteil des Nachmittags bei der Treppe gesessen haben, so tief in den Verlust versenkt, dass sie an nichts dachte, sich nur vage des Meerliedes bewusst, das Grünmuschel mit ihr über das Datio teilte. Schließlich kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nicht allein war. Außer Grünmuschels Trost… irgendwann vorher war der kleine Junge zurückgekehrt. Er saß neben ihr, umringt von all den Welpen, alle ganz still.
EPILOG
Frieden war eingekehrt, wo einst Flensers Reich gewesen war. Zumindest gab es keine Spur von Streitkräften. Wer immer sie zurückgezogen hatte, hatte es sehr geschickt getan. Im Laufe der Tage ließ sich nach und nach das örtliche Bauernvolk blicken. Wo die Leute nicht einfach betäubt waren, schienen sie froh zu sein, dass sie das alte Regime los waren. Das Leben auf den Bauernhöfen kam wieder in Gang, und die Bauern taten ihr Bestes, um sich von der schlimmsten Feuersbrunst seit langem zu erholen, die von den heftigsten Kämpfen begleitet gewesen war, die es in der Gegend jemals gegeben hatte.
Die Königin hatte Boten nach Süden gesandt, um den Sieg zu melden, doch sie schien es nicht eilig zu haben, in ihre Hauptstadt zurückzukehren. Ihre Truppen machten sich bei einigen Landarbeiten nützlich und taten ihr Möglichstes, den Einheimischen nicht zur Last zu fallen. Doch sie durchforschten auch die Burg auf dem Schiffsberg und die große alte Burg auf der Verborgenen Insel. Da unten gab es all die Schrecken, über die die Jahre hindurch geflüstert worden war. Doch noch immer fehlte jede Spur von den Truppen, die entkommen waren. Die Einheimischen erzählten eifrig ihre eigenen Geschichten, und die meisten klangen verhängnisvoll glaubwürdig: Dass Flenser, ehe er seinen Vorstoß auf die Republik unternommen hatte, weiter nördlich Rückzugsstellungen erbaut habe. Dort hatten Reserven gelegen — obwohl manche glaubten, Stahl habe diese längst aufgebraucht. Bauern aus dem nördlichen Tal hatten den Rückzug der flenseristischen Truppen gesehen. Manche sagten, sie hätten Flenser selbst gesehen — oder zumindest ein Rudel, das die Farben eines Fürsten trug. Selbst die Einheimischen glaubten nicht alles an diesen Geschichten, dass Flenser hier und da gewesen sei, Solos, kilometerweit voneinander entfernt, die den Rückzug organisiert hatten.
Ravna und die Königin hatten Gründe, die Geschichte zu glauben, waren aber nicht töricht genug, es nachzuprüfen. Holzschnitzerins Expeditionskorps war nicht groß, und die Wälder und Täler erstreckten sich mehr als hundert Kilometer weit bis zu der Stelle, wo sich die Eisfänge nach Westen zum Meer hin krümmten. Dieses Gebiet war Holzschnitzerin unbekannt. Wenn Flenser es jahrzehntelang vorbereitet hatte — wie es die normale Vorgehensweise dieses Rudels war —, würde es tödliche Überraschungen geben, selbst für eine große Armee, die nur auf ein paar Dutzend Partisanen Jagd machte. Es war besser, Flenser in Ruhe zu lassen und zu hoffen, dass seine Reserven von Fürst Stahl aufgezehrt worden waren.
Holzschnitzerin machte sich Sorgen, dass dies die große Gefahr des nächsten Jahrhunderts sein würde.
Doch die Dinge klärten sich viel früher. Es war Flenser, der auf sie zu kam, und nicht mit einem Gegenangriff: Etwa zwanzig Tage nach der Schlacht, am Ende eines Tages, da die Sonne gerade kurz hinter die nördlichen Berge tauchte, erklangen Signalhörner. Ravna und Johanna wachten auf und standen wenig später auf dem Wehrgang der Burg, in eine Art Sonnenuntergang starrend, der die Umrisse der Berge jenseits des nördlichen Fjords ganz in Orange und Gold zeichnete. Holzschnitzerins Berater blickten aus vielen Augen auf die Höhenzüge. Einige wenige hatten Fernrohre.
Ravna ließ Johanna durch ihren Feldstecher schauen. »Da oben ist jemand.« Scharf gegen das Glühen des Himmels abgezeichnet, trug ein Rudel ein langes Banner mit einzelnen Stangen für jedes Glied.
Holzschnitzerin benutzte zwei Fernrohre, die wahrscheinlich wirksamer als Ravnas Gerät waren, wenn man den Abstand zwischen den Augenpaaren des Rudels berücksichtigte. »Ja, ich sehe es. Das ist übrigens eine Parlamentärsflagge. Und ich glaube, ich weiß, wer sie trägt.« Sie sagte etwas zu Wanderer. »Es ist lange her, seit ich mit diesem da gesprochen habe.«
Johanna blickte noch immer durch den Feldstecher. Schließlich sagte sie: »Er… hat Stahl erschaffen, nicht wahr?«
»Ja, Liebe.«
Das Mädchen senkte den Feldstecher. »Ich… glaube, ich werde diese Begegnung auslassen.« Ihre Stimme klang weit entfernt.
Erst acht Stunden später trafen sie sich am Berghang nördlich der Burg. In der Zwischenzeit hatten Holzschnitzerins Truppen das Tal erkundet. Das diente nur zum Teil dem Schutz gegen Verrat der anderen Seite: Ein ganz besonderes Rudel des Feindes würde kommen, und es gab eine Menge Einheimische, die ihm den Tod wünschten.
Holzschnitzerin ging bis zu einer Stelle, wo der Berg steil zum Wald hin abfiel. Ravna und Pilger folgten ihr im für Klauenwesen geringen Anstand von zehn Metern. Holzschnitzerin sagte nicht viel über diese Begegnung, doch Pilger hatte sich als sehr gesprächig erwiesen. »Das ist derselbe Weg, auf dem ich seinerzeit gekommen bis, vor einem Jahr, als das erste Schiff landete. Du siehst, wie manche von den Bäumen vom Feuerstrahl versengt wurden. Zum Glück war es kein so trockener Sommer wie dieser.«
Der Wald war dicht, aber sie schauten über die Wipfel hinweg. Selbst bei dieser Trockenheit lag ein süßer, harziger Geruch in der Luft. Zu ihrer Linken lagen ein winziger Wasserfall und ein Pfad, der ins Tal hinab führte — der Pfad, den ihr Besucher zu benutzen sich bereit erklärt hatte. Ackerland nannte Wanderer den Talgrund. In Ravnas Augen war es ein ungeordnetes Chaos. Die Klauenwesen bauten verschiedene Pflanzen zusammen auf denselben Feldern an, und sie sah keine Zäune, nicht einmal, um Wild zurückzuhalten. Hier und da standen Holzhütten mit steilen Dächern und nach außen gekrümmten Wänden — wie man es in einem Gebiet mit schneereichen Wintern erwarten konnte.
»Eine ziemliche Meute da unten«, sagte Pilger.
Ihr kam es nicht eng vor: kleine Klümpchen, jedes ein Rudel, jedes deutlich von den anderen getrennt. Sie sammelten sich um die Hütten. Andere waren über die Felder verstreut. Holzschnitzerins Soldaten standen entlang der kleinen Straße, die das Tal durchquerte.
Sie fühlte, wie sich neben ihr Pilger spannte. Ein Kopf streckte sich an ihrer Hüfte vorbei, zeigte nach vorn. »Das muss er sein. Ganz allein, wie versprochen. Und…« — ein Teil von ihm schaute durch ein Fernrohr — »also das ist eine Überraschung.«
Ein einzelnes Rudel kam langsam die Straße entlang, an Holzschnitzerins Wachen vorbei. Es zog einen kleinen Wagen — der anscheinend eins von seinen Gliedern enthielt. Einen Krüppel?
Die Bauern strömten an die Feldränder und gingen neben dem einzelnen Rudel her. Sie hörte das Kollern der Klauensprache. Wenn sie laut sein wollten, dann konnten sie sehr, sehr laut sein. Die Soldaten bewegten sich, um jeden Einheimischen zurückzutreiben, der sich der Straße zu weit näherte.
»Ich denke, sie sind uns dankbar?« Von allem, was sie seit der Schlacht gesehen hatte, kam dies der Gewalt am nächsten.
»Sind sie auch. Die meisten von ihnen schreien nach Flensers Tod.«
Flenser, Schneider, das Rudel, das Jefri Olsndot gerettet hatte. »So sehr können sie ein einziges Rudel hassen?«
»Lieben und hassen und fürchten, alles zugleich. Seit mehr als einem Jahrhundert sind sie unter seinem Messer gewesen. Und nun ist er hier, halb verkrüppelt und ohne seine Soldaten. Und dennoch haben sie immer noch Angst. Da unten gibt es genug Bauern, um unsere Wachen zu überwältigen, aber der Druck ist nicht besonders groß. Dies war Flensers Reich, und er hat es behandelt, wie ein guter Bauer vielleicht seinen Hof behandelt. Schlimmer, er hat die Leute und das Land als eine Art gewaltiges Experiment behandelt. Nach dem, was ich im Datio lese, ist er ein Ungeheuer, das seiner Zeit voraus ist. Da draußen gibt es manche, die immer noch für ihren Herrn töten würden, und niemand weiß sicher, wer sie sind…« Er hielt eine Weile inne und beobachtete nur.