Grondr fuhr fort: »Werden sich diese Nachrichten auf Ihre Arbeit auswirken?«
Es wurde immer spannender; sie hätte schwören können, dass der andere allmählich zum Kern der Sache käme. Vielleicht war das schon der Kern? »Ah… nein, Herr Direktor. Die Sache mit Straumli ist schrecklich, vor allem für die Menschheit. Aber meine Heimat ist Sjandra Kei. Der Straumli-Bereich stammt von uns ab, aber ich habe keine Verwandten dort.« Obwohl ich dort hätte sein können, wären nicht Mutter und Vater dagegen gewesen. In Wahrheit war Sjandra Kei, als Straumli Haupt vom Netz abfiel, fast vierzig Stunden lang nicht zu erreichen gewesen. Das hatte sie sehr beunruhigt, da jedes Umschalten auf eine andere Route augenblicklich hätte erfolgen müssen. Schließlich war die Verbindung wiederhergestellt worden; das Problem hatte in verwahrlosten Routen-Tabellen auf einem anderen Pfad gelegen. Ravna hatte sogar die Ersparnisse eines halben Jahres für eine Botschaft mit Rückantwort geopfert. Lynne und ihren Eltern ging es gut, für die Leute bei Sjandra Kei war das Debakel von Straumli die Nachricht des Jahrhunderts, aber dennoch eine Katastrophe in großer Entfernung. Ravna fragte sich, ob wohl jemals Eltern einen besseren Rat erteilt hatten, als sie von ihren erhalten hatte!
»Gut, gut.« Seine Mundpartien bewegten sich in einer Weise, die dem Nicken eines Menschen entsprach. Sein Kopf neigte sich, sodass nur noch die äußeren Sprenkel sie anblickten: der Bursche schien tatsächlich zu zögern! Ravna erwiderte den Blick schweigend. Grondr ’Kalir war vielleicht der seltsamste Direktor in der Org. Offiziell unterstand ihm eine Sektion der Archive; in Wahrheit leitete er die Vrinimi-Marketing-Abteilung (d.h. den Geheimdienst). Es wurde erzählt, er habe die Obergrenze des Jenseits besucht; Egravan behauptete, er besitze ein künstliches Immunsystem. »Sehen Sie, durch die Straumli-Katastrophe sind Sie zufällig zu einer der wertvollsten Angestellten der Organisation geworden.«
»Ich… verstehe nicht.«
»Ravna, die Gerüchte in der Nachrichtengruppe Bedrohungen sind wahr. Die Straumer hatten ein Laboratorium im Unteren Transzens. Sie spielten mit Rezepten aus einem verschollenen Archiv herum, und sie haben eine neue MACHT erschaffen. Es scheint eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI zu sein.«
Das Bekannte Netz meldete etwa einmal pro Jahrhundert eine PERVERSION DER KLASSE ZWEI. Solche MÄCHTE besaßen eine normale ›Lebensdauer‹ — ungefähr zehn Jahre. Doch sie waren eindeutig bösartig und konnten in zehn Jahren riesigen Schaden anrichten. Armes Straum.
»Sie sehen also, dass hier ein riesiges Gewinn- oder Verlustpotential liegt. Wenn sich die Katastrophe ausbreitet, werden wir Netzkunden verlieren. Andererseits möchte jedermann rings um den Straumli-Bereich verfolgen, was vor sich geht. Das könnte unseren Informationsfluss um etliche Prozent vergrößern.«
Grondr formulierte es kaltblütiger, als ihr lieb war, doch er hatte Recht. Die Gewinnmöglichkeiten hingen tatsächlich direkt mit den Aktionen zusammen, um die PERVERSION einzudämmen. Wenn sie nicht derart in der Arbeit am Archiv versunken gewesen wäre, hätte sie sich das alles denken können. Und nun, da sie wirklich daran dachte: »Es gibt sogar noch mehr spektakuläre Möglichkeiten. In der Vergangenheit sind diese PERVERSIONEN von Interesse für andere MÄCHTE gewesen. Sie werden Netzkapazität haben wollen… und Information über die Schöpferrasse.« Ihre Stimme verstummte, als ihr endlich der Grund dieser Besprechung klar wurde.
Grondrs Mundpartien klickten zustimmend. »In der Tat. Wir von Relais sind in einer guten Position, um das Transzens mit Nachrichten zu versorgen. Und wir haben auch unseren eigenen Menschen. In den letzten drei Tagen haben wir etliche Dutzend Anfragen von Zivilisationen im Hohen Jenseits erhalten, die behaupten, MÄCHTE zu vertreten. Dieses Interesse könnte für die Organisation einen großen Zuwachs an Einkommen in der nächsten Dekade bedeuten.
Das alles konnten Sie in der Nachrichtengruppe Bedrohungen lesen. Doch da ist noch ein Punkt, etwas, das ich Sie vorläufig geheim zu halten bitte: Vor fünf Tagen ist ein Schiff aus dem Transzens in unserer Region eingetroffen. Es behauptet, direkt unter der Kontrolle einer MACHT zu stehen.« Die Wand hinter ihm wurde zu einem Fenster, das den Besucher zeigte. Das Schiff war eine unregelmäßige Ansammlung von Dornen und Klumpen. Ein Maßstab behauptete, das Ding habe nur fünf Meter im Durchmesser.
Ravna spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Hier im Mittleren Jenseits müssten sie relativ sicher vor der Launen der MÄCHTE sein. Dennoch — der Besuch war beunruhigend. »Was will es?«
»Information über die Straumli-PERVERSION. Insbesondere ist es sehr an Ihrer Rasse interessiert. Es würde eine Menge dafür geben, einen lebenden Menschen mitzunehmen…«
Ravnas Antwort kam abrupt. »Ich bin daran nicht interessiert.«
Grondr breitete die bleichen Hände aus. Das Licht glitzerte auf dem Chitin seiner Fingerrücken. »Es wäre eine enorme Chance. Eine Aspirantur bei den Göttern. Dieser eine hat versprochen, dafür hier ein Orakel einzurichten.«
»Nein!« Ravna erhob sich halb vom Stuhl. Sie war ein einzelner Mensch, mehr als zwanzigtausend Lichtjahre von Zuhause entfernt. Das war in den ersten Tagen ihrer Aspirantur beängstigend gewesen. Seither hatte sie Freunde gewonnen, hatte mehr über die Ethik der Organisation erfahren, vertraute diesen Leuten jetzt fast so sehr, wie den Menschen daheim bei Sjandra Kei. Aber… es gab dieser Tage nur ein halbwegs vertrauenswürdiges Orakel im Netz, und das war fast zehn Jahre alt. Diese MACHT verlockte die Vrinimi-Org mit einem märchenhaften Schatz.
Grondrs Klicken bedeutete Verlegenheit. Er winkte sie zu ihrem Stuhl zurück. »Es war nur ein Vorschlag. Wir missbrauchen unsere Angestellten nicht. Wenn Sie einfach unser Experte vor Ort sein wollen…«
Ravna nickte.
»Gut. Offen gesagt, ich hatte nicht erwartet, dass Sie das Angebot annehmen würden. Wir haben jemanden, der wohl eher dazu bereit sein wird, der aber Betreuung braucht.«
»Einen Menschen? Hier?« Ravna ließ im örtlichen Verzeichnis eine ständige Abfrage nach anderen Menschen laufen. In den letzten zwei Jahren hatte sie ganze drei zu Gesicht bekommen, und die waren nur auf der Durchreise gewesen. »Seit wann ist sie — er? — hier?«
Grondr sagte etwas zwischen einem Lächeln und einem Lachen. »Etwas länger als ein Jahrhundert, obwohl wir es erst vor ein paar Tagen festgestellt haben.« Die Bilder rings um ihn wechselten. Ravna erkannte den ›Dachboden‹ von Relais, die Müllhalde von verlassenen Schiffen und Frachtgeräten, die gerade mal tausend Lichtsekunden von den Archiven entfernt im Raum trieb. »Wir bekommen eine Menge Einwegfracht, Dinge, die in der Hoffnung versandt werden, dass wir sie kaufen oder in Kommission nehmen.« Ins Bild kam ein altersschwaches Raumfahrzeug, an die zweihundert Meter lang, mit einer Wespentaille, die einem Staustrahlantrieb Halt bot. Seine Ultraantriebs-Dorne waren kaum mehr als Stummel.
»Ein Grundschlepper?«, sagte Ravna.
Grondr klickte verneinend. »Ein Bagger. Das Schiff ist ungefähr dreißigtausend Jahre alt. Die meiste Zeit davon war es tief in die Langsame Zone eingetaucht, und zehntausend Jahre in die Gedankenleeren Tiefen.«
Aus der Nähe konnte sie jetzt sehen, dass der Schiffsrumpf mit feinen Grübchen übersät war, dem Ergebnis jahrtausendelanger relativistischer Erosion. Selbst unbemannt waren solche Expeditionen selten: bei tiefem Eintauchen konnte das Schiff nicht zu Lebzeiten seiner Erbauer ins Jenseits zurückkehren. Manche kehrten nicht einmal zurück, solange die Rasse seiner Erbauer lebte. Die Leute, die derlei Expeditionen aussandten, waren halt ein bisschen sonderbar; die Leute, die die Expedition wieder auffanden, konnten ordentlichen Gewinn daraus ziehen.
»Dieses hier ist von sehr weit gekommen, selbst wenn die Mission nicht den absoluten Erfolg hatte. In den Gedankenleeren Tiefen hat es weiter nichts Interessantes zu Gesicht bekommen — kein Wunder, wenn man bedenkt, dass sogar simple Automatik dort versagt. Den größten Teil der Fracht haben wir sofort verkauft. Den Rest haben wir katalogisiert und vergessen… bis zur Straumli-Affäre.« Das Sternenpanorama verschwand. Sie blickten auf eine medizinische Anzeige, eine zufällige Ansammlung von Gliedern und Körperteilen. Sie sahen sehr menschlich aus. »In einem Sonnensystem am Grunde des Langsam hat der Bagger ein Wrack gefunden. Es besaß keinen Ultraantrieb, es war eine echte Konstruktion der Langsamen Zone. Das Sonnensystem war unbewohnt. Wir vermuten, dass das Schiff einen Strukturausfall hatte — oder vielleicht ist die Besatzung von den Tiefen in Mitleidenschaft gezogen worden. Jedenfalls blieb von ihnen nur ein gefrorener Mischmasch übrig.«