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Sie saßen noch ein paar Stunden im Schatten der Farne und sahen zu, wie die Flut herein kam. Die Sonne senkte sich auf ihrer nachmittäglichen Bahn — sie stand noch immer so hoch, wie die Mittagssonne in Holzschnitzerheim jemals sein konnte. In gewisser Weise waren die Eigenschaften des Lichts und der Sonnenbewegung die seltsamsten Dinge an dem Bild. Die Sonne stand so hoch und sank derart rasch, ohne wie an arktischen Nachmittagen langsam schräg abwärts zu gleiten. Er hatte schon fast vergessen, wie es im Land der Kurzen Dämmerung war.

Jetzt befand sich die Brandung dreißig Ellen landeinwärts von der Stelle, wo sie die Fahrerin zurückgelassen hatten. Die Mondsichel folgte der Sonne zum Horizont hin; das Wasser würde nicht weiter steigen. Ravna stand auf und schirmte die Augen gegen die sinkende Sonne ab. »Zeit für uns zu gehen, glaube ich.«

»Du meinst, sie wird in Sicherheit sein?«

Ravna nickte. »Grünmuschel hatte genug Zeit, um mögliche Gifte und die meisten Raubtiere zu bemerken. Außerdem ist sie bewaffnet.«

Mensch und Klauenwesen machten sich auf den Weg zum Kamm des Atolls, an den höchsten Farnen vorbei. Wanderer hielt ein Augenpaar auf das Meer hinter ihnen gerichtet. Die Brandung war jetzt an Grünmuschel vorübergegangen. Ihre Stelle wurde noch von tiefem Wasser überspült, lag aber jenseits von Gischt und sprühendem Wasser. Zum letzten Mal sah er sie im Wellental hinter einem Brecher: Die Glätte der See wurde für einen Augenblick von zweien ihrer größten Wedel durchbrochen, deren Spitzen sich sanft wiegten.

* * *

Der Sommer nahm sanft Abschied von dem Land um die Verborgene Insel. Es gab etwas Regen und keine Heidefeuer mehr. Trotz Krieg und Dürre würde es sogar eine Ernte geben. Jeden Tag verkroch sich die Sonne tiefer hinter den nördlichen Bergen, eine Zeit der Dämmerung, die von Woche zu Woche anwuchs, bis es um Mitternacht wirklich dunkel wurde. Und Sterne kamen.

Es war eine Art Zufall, dass in der letzten Nacht des Sommers so viele Dinge zusammentrafen. Ravna ging mit den Kindern hinaus auf die Felder an der Schiffsburg, um den Himmel zu betrachten.

Hier gab es keine städtische Dunstglocke, nicht einmal raumnahe Industrie. Nichts, was den Anblick des Himmels getrübt hätte, abgesehen von einem feinen rosa Schein im Norden, der ein Rest Dämmerung sein mochte — oder Nordlicht. Die vier setzten sich auf das kühle Moos und schauten sich um. Ravna atmete tief durch. In der Luft gab es keine Spur von Asche mehr, nur noch saubere Kühle, ein Vorgeschmack des Winters.

»Der Schnee wird so hoch wie deine Schultern liegen, Ravna«, sagte Jefri, begeistert von der Möglichkeit. »Es wird dir gefallen.« Der fahle Fleck, der sein Gesicht war, schien hin und her über den Himmel zu blicken.

»Es kann schlimm sein«, sagte Johanna Olsndot. Sie hatte nichts dagegen gehabt, heute Nacht mit hierher zu kommen, doch Ravna wusste, dass sie lieber unten auf der Verborgenen Insel geblieben wäre, um sich um die Arbeiten des nächsten Tages zu sorgen.

Jefri spürte ihre Unrast — nein, es war Amdi, der jetzt sprach; sie würden es den beiden nie abgewöhnen, sich einer für den anderen auszugeben. »Mach dir keine Sorgen, Johanna. Wir werden dir helfen.«

Eine Weile schwiegen alle. Ravna blickte den Berg hinab. Es war zu dunkel, um die sechshundert Meter Abhang zu sehen, zu dunkel, um die Fjorde und Inseln da unten auszumachen. Aber der Fackelschein auf den Wehrgängen der Verborgenen Insel kennzeichnete ihre Lage. Dort unten in Stahls altem innerem Hof — wo Holzschnitzerin jetzt herrschte — befanden sich alle funktionierenden Kältezellen vom Schiff. 151 Kinder schliefen dort, die letzten Überlebenden der Flucht der Straumer. Johanna behauptete, dass die meisten wiederbelebt werden könnten, am besten, wenn es bald geschah. Die Königin war von der Idee begeistert gewesen. Große Teile der Burg waren abgetrennt und für menschliche Bedürfnisse neu eingerichtet worden. Die Verborgene Insel lag gut geschützt — wenn nicht vor dem Schnee, so doch vor den schlimmsten Winden. Wenn man sie wiederbeleben könnte, würde es den Kindern nicht schwer fallen, hier zu leben. Ravna hatte Jefri und Johanna und Amdi lieben gelernt — aber würde sie mit weiteren hunderteinundfünfzig zurechtkommen? Holzschnitzerin schien keine Bedenken zu haben. Sie plante eine Schule, wo Klauenwesen etwas über die Menschen und die Kinder etwas über diese Welt lernen sollten… Wenn sie Jefri und Amdi beobachtete, erfasste Ravna allmählich, was daraus werden konnte. Diese beiden standen sich näher als alle anderen Kinder, die sie jemals gekannt hatte, und die Summe war fähiger. Und das betraf nicht nur das mathematische Genie der Welpen; sie hatten noch weitere Fähigkeiten.

Menschen und Rudel passten zusammen, und Holzschnitzerin war klug genug, daraus Nutzen zu ziehen. Ravna mochte die Königin, und Pilger sogar noch mehr, doch am Ende würden die Rudel die großen Nutznießer sein. Holzschnitzerin sah deutlich die Grenzen ihrer Rudelrasse. Die Aufzeichnungen der Klauenwesen reichten mindestens zehntausend Jahre zurück. Ihre ganze überlieferte Geschichte hindurch waren sie in Kulturen gefangen gewesen, die hinter der gegenwärtigen nicht weit zurückstanden. Eine Rasse von scharfer Intelligenz, hatten sie doch einen einzigen überwältigenden Nachteiclass="underline" Sie konnten nicht auf geringe Entfernung zusammenarbeiten, ohne diese Intelligenz einzubüßen. Ihre Zivilisationen bestanden aus isolierten Persönlichkeiten, notgedrungenerweise introvertiert, die niemals über bestimmte Grenzen hinaus fortschreiten konnten. Der Eifer, mit dem Pilger und Scrupilo und die anderen Kontakte mit den Menschen suchten, war ein Beweis dafür. Auf lange Sicht können wir die Klauenwesen aus dieser Sackgasse befreien.

Amdi und Jefri kicherten über irgendetwas, wobei das Rudel Glieder fast bis an den Rand des Bewusstseins laufen ließ. In den letzten Wochen hatte Ravna herausgefunden, dass dieser Wildwuchs an Aktivität für Amdi die Norm war, dass seine anfängliche Langsamkeit seinem Schmerz wegen Stahl zuzuschreiben war. Wie… pervers — oder wie wunderbar? —, dass ein Ungeheuer wie Stahl der Gegenstand von so viel Liebe sein konnte.

Jefri rief: »Schau du in alle Richtungen und sag mir, wohin ich blicken soll.« Stille. Dann wieder Jefris Stimme: »Da!«

»Was macht ihr denn da?«, fragte Johanna voll schwesterlicher Streitlust.

»Wir beobachten Meteoriten«, sagte einer von beiden. »Ja, ich schaue in alle Richtungen und zeige Jefri — da! —, wohin er blicken soll, wenn einer auftaucht.«

Ravna sah nichts, doch der Junge hatte auf das Signal seines Freundes hin abrupt den Kopf gedreht.

»Hübsch, hübsch«, erklang Jefris Stimme. »Der war ungefähr vierzig Kilometer hoch, Geschwindigkeit…« Eine Sekunde lang murmelten die beiden Stimmen etwas Unverständliches. Sogar wenn man die breite Blickbasis des Rudels in Betracht zog — wie konnten sie wissen, wie hoch der Meteorit war?

Ravna lehnte sich zurück in die Höhlung, die die Moosbuckel bildeten. Es war eine gute Parka, die ihr die Einheimischen angefertigt hatten; sie spürte die Kühle des Bodens kaum. Über ihr die Sterne. Zeit zum Nachdenken, um ein wenig Frieden zu finden, ehe morgen alles anfangen würde. Ziehmutter für an die hundertfünfzig Kinder… und ich dachte, ich sei Bibliothekarin.

Daheim hatte sie den Nachthimmel geliebt, auf einen Blick konnte sie die anderen Sterne von Sjandra Kei sehen, manchmal die anderen Welten. Ihre Heimatorte hatten an ihrem Himmel gestanden. Für einen Moment schien die Abendkühle zu einem Winter zu gehören, die niemals weichen würde. Lynne und ihre Leute und Sjandra Kei. Ihr ganzes Leben bis vor drei Jahren. Es war nun alles dahin. Denk nicht drüber nach. Irgendwo da draußen befanden sich die Aniara-Flotte und die Reste ihres Volkes. Kjet Svensndot. Tirroll und Glimfrell. Sie hatte sie nur für ein paar Stunden kennen gelernt, doch sie waren von Sjandra Kei — und sie hatten mehr gerettet, als sie jemals erfahren würden. Sie würden noch am Leben sein. Die Sicherheitsgesellschaft von SjK hatte in ihrer Flotte ein paar Staustrahlschiffe. Sie konnten eine Welt finden, nicht hier, sondern näher am Ort der Schlacht.