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Eine Tragödie am Grunde des Langsam, Jahrtausende her. Ravna zwang sich, den Blick von dem Gemetzel abzuwenden. »Sie haben vor, das da an unseren Besucher zu verkaufen?«

»Es kommt noch besser. Nachdem wir erst einmal angefangen hatten, uns umzutun, entdeckten wir einen wesentlichen Fehler im Katalog. Einer von den Leichnamen ist fast intakt. Wir haben ihn mit Teilen von anderen zusammengeflickt. Es war teuer, aber jetzt haben wir einen lebendigen Menschen.« Das Bild flackerte abermals, und Ravna hielt den Atem an. In der medizinischen Animation ordneten sich die Teile zu einem Ganzen. Da war ein vollständiger Körper, am Bauch ein wenig aufgerissen. Teile fügten sich zusammen, und… das war keine Sie. Er schwebte heil und nackt, als schlafe er. Ravna zweifelte nicht an seiner menschlichen Natur, doch die ganze Menschheit im Jenseits stammte von der Nyjora ab. Dieser Bursche teilte dieses Erbe nicht. Die Haut war rauchgrau, nicht braun. Das Haar war ein rötliches Braun, eine Farbe, die sie nur in Historien aus der Zeit vor der Nyjora gesehen hatte. Die Gesichtsknochen zeigten feine Unterschiede gegenüber denen neuzeitlicher Menschen. Die kleinen Abweichungen machten einen stärkeren Eindruck als die völlige Fremdheit ihrer Arbeitskollegen.

Jetzt war die Gestalt bekleidet. Unter anderen Umständen hätte Ravna gelächelt. Grondr ’Kalir hatte ein absurdes Kostüm gewählt, etwas aus nyjoranischer Zeit. Die Gestalt trug ein Schwert und eine Kugelbüchse… Ein schlafender Prinz aus dem Zeitalter der Fürstinnen.

»Voilà: der Urtyp des Menschen«, sagte Grondr.

SIEBEN

›Relais‹ ist eine weit verbreitete Ortsbezeichnung. Sie hat in fast jeder Umgebung eine Bedeutung. Wie Neustadt und Neuheim kommt sie immer wieder vor, wenn Leute umziehen oder Kolonien gründen oder sich an einem Kommunikationsnetz beteiligen. Man könnte eine Milliarde Lichtjahre weit oder eine Milliarde Jahre lang reisen und immer noch unter Rassen mit natürlicher Intelligenz derlei Namen finden.

Doch im gegenwärtigen Zeitalter gab es ein ›Relais‹ , das vor allen anderen bekannt war. Dieses Relais erschien auf der Routenliste von zwei Prozent des gesamten Informationsflusses im Bekannten Netz. Zwanzigtausend Lichtjahre über der galaktischen Ebene hatte Relais einen ungestörten Blick auf dreißig Prozent des Jenseits, einschließlich vieler Sternensysteme ganz am Grunde, wo Sternenschiffe nur ein Lichtjahr pro Tag zurücklegen können. Einige wenige metallhaltige Sonnensysteme befanden sich in ähnlich günstiger Lage, und sie bildeten eine Konkurrenz. Doch während andere Zivilisationen das Interesse verloren oder das Transzens kolonisierten oder in einer Apokalypse endeten, überdauerte die Vrinimi-Organisation. Nach fünfzigtausend Jahren gab es noch etliche Rassen der ursprünglichen Org unter den Mitgliedern. Keine von ihnen hatte noch eine Führungsrolle — doch der ursprüngliche Ansatz und die Politik waren dieselben geblieben. Position und Fortdauer: Relais war jetzt das wichtigste Bindeglied zu den Magellanschen Wolken und eine der wenigen Stationen, die überhaupt irgendeine Verbindung zum Jenseits der Sculptor-Galaxis hatten.

Bei Sjandra Kei hatte Relais einen märchenhaften Ruf besessen. In den beiden Jahren ihrer Aspirantur hatte Ravna festgestellt, dass die Wahrheit den Ruf noch übertraf. Relais lag im Mittleren Jenseits; das einzige Exportgut der Organisation waren die Relaisfunktion und der Zugang zum lokalen Archiv. Dennoch importierte sie die besten Biologate und Datenverarbeitungsausrüstungen aus dem Hohen Jenseits. Die Docks von Relais waren eine Extravaganz, die sich nur die absolut Reichen leisten konnten. Sie erstreckten sich tausend Kilometer weit: Anlegestellen, Reparatursektionen, Umladezentren, Parks und Spielflächen. Selbst bei Sjandra Kei gab es weitaus größere Habitate. Doch die Docks befanden sich nicht in einer Umlaufbahn. Sie schwebten tausend Kilometer über DaUnten auf dem größten Agrav, den Ravna je gesehen hatte. Bei Sjandra Kei reichte das Jahreseinkommen eines Akademikers vielleicht für einen Quadratmeter von Agravgewebe — billigem Kram, der womöglich nicht einmal ein Jahr lang hielt. Hier gab es Millionen Hektar von dem Zeug, die Milliarden von Tonnen im Gleichgewicht hielten. Schon der Ersatz für totes Gewebe erforderte mehr Handelsaustausch mit dem Hohen Jenseits, als die meisten Sternenhaufen aufbrachten.

Und jetzt habe ich hier mein Büro. Direkt für Grondr ’Kalir zu arbeiten, hatte seine guten Seiten. Ravna warf sich in den Sessel zurück und blickte über das Zentralmeer. In der Höhe der Docks betrug die Gravitation immer noch etwa dreiviertel Ge. Luftbrunnen erzeugten eine atembare Atmosphäre über dem mittleren Teil der Plattform. Tags zuvor hatte sie ein Segelboot über das Meer mit dem durchsichtigen Grund genommen. Das war wirklich eine sonderbare Erfahrung: Planetenwolken unter dem Kiel, oben Sterne und indigoblauer Himmel.

Am Morgen hatte sie die Brandung hochgedreht — man brauchte dazu nur die Agravs des Bassins zu biegen. Die Wellen schlugen in regelmäßigen Abständen an ihren Strand. Sogar dreißig Meter vom Wasser entfernt lag ein scharfer Salzgeruch in der Luft. Reihen weißer Wellenkämme zogen sich in die Ferne hin.

Sie musterte die Gestalt, die langsam den Strand entlang auf sie zu schlenderte. Vor ein paar Wochen noch hätte sie sich solch eine Situation nicht träumen lassen. Vor ein paar Wochen noch war sie draußen beim Archiv gewesen, in die Arbeit für ihre Qualifizierung vertieft und froh, mit einer der größten Datenbanken im Bekannten Netz zu tun zu haben. Jetzt… war es fast so, als habe sie den Kreis vollendet und sei zurückgekehrt zu ihren Kindheitsträumen von Abenteuern. Das einzige Problem bestand darin, dass sie sich manchmal wie einer von den Bösewichten fühlte: Pham Nuwen war ein lebendiger Mensch, keine Sache, die verkauft werden durfte.

Sie stand auf und ging ihrem rothaarigen Besucher entgegen.

Er hatte das Schwert und die Handbüchse nicht bei sich, mit der ihn Grondrs Phantasie ausgestattet hatte. Doch seine Kleidung war das gewebte Tuch aus alten Abenteuern, und er trat mit träger Selbstsicherheit auf. Seit ihrem Gespräch mit Grondr hatte sie sich ein wenig Anthropologie der Alten Erde angeschaut. Das rote Haar und die Lidfalten waren dort vorgekommen, wenngleich selten bei demselben Menschen. Seine rauchfarbene Haut wäre einem Bewohner der Erde gewiss aufgefallen. Wie sie selbst war der Bursche ein Produkt der nachirdischen Evolution.

Eine Armlänge vor ihr blieb er stehen und grinste sie mit herabgezogenen Mundwinkeln an. »Sie sehen ganz schön menschlich aus. Ravna Bergsndot?«

Sie lächelte und nickte ihm zu. »Herr Pham Nuwen?«

»Richtig. Wir scheinen beide sehr gut im Raten zu sein.« Er ging an ihr vorbei in den Schatten des Büroinnern. Ein großspuriger Kerl.

Sie folgte ihm, unsicher, welches Verhalten wohl angebracht wäre. Man sollte meinen, bei einem Mitmenschen dürfte es keine Probleme geben…

Das Gespräch verlief dann auch recht glatt. Es war über dreißig Tage her, seit Pham Nuwen wiedererweckt worden war. Der größte Teil der Zeit war mit Sprachenbüffeln vergangen. Der Bursche musste ziemlich helle sein, er sprach das Handels-Triskweline schon mit volkstümlicher Geläufigkeit. Er war wirklich ziemlich nett. Ravna war seit zwei Jahren von Sjandra Kei fort und hatte noch ein Jahr Aspirantur vor sich. Sie kam ganz gut zurecht, hatte viele gute Freunde hier — Egravan, Sarale. Doch schon mit diesem Burschen zu plaudern, ließ sie einen Großteil der Einsamkeit wieder empfinden. In mancher Beziehung war er fremder als alles andere bei Relais…