Ravna nickte. »Und manche von diesen müssen der menschlichen Komplexität nahegekommen sein oder sie übertroffen haben. Natürlich haben die Straumer das gewusst und versucht, ihre Schöpfungen zu isolieren. Aber bei einem boshaften und schlauen Entwurf… wäre es kein Wunder, wenn die Geräte auf Umwegen Zugang zum lokalen Netz des Labors fanden und die Information dort störten. Von da an hätten die Straumer keine Chance mehr gehabt. Die vorsichtigsten Mitglieder der Gruppe wären als unfähig dargestellt worden. Phantomgefahren wären entdeckt, Notreaktionen verlangt worden. Man hätte raffinierte Geräte mit geringeren Sicherungen gebaut. Vermutlich sind die Menschen getötet oder umprogrammiert worden, noch ehe die PERVERSION die Transsapienz erlangte.«
Es folgte ein langes Schweigen. Pham Nuwen wirkte beinahe einsichtig. Tja. Es gibt ’ne Menge, was du nicht weißt, Kumpel. Überleg dir, was der ALTE vielleicht mit dir vorhat.
Blaustiel neigte eine Ranke herab, um von einem braunen Gebräu zu kosten, das wie Tang roch. »Gut erzählt, meine Dame Ravna. Doch in einem unterscheidet sich die gegenwärtige Situation. Das ist vielleicht ein Glücksfall, und sehr wichtig… Sehen Sie, kurz bevor wir den Straumli-Bereich verließen, waren wir auf einer Strandparty mit Minderen Fahrern. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie von den Ereignissen kaum betroffen gewesen; viele hatten nicht einmal bemerkt, dass Straum seine Unabhängigkeit verloren hatte. Wenn sie Glück haben, werden sie vielleicht die Letzten sein, die versklavt werden.« Seine quäkende Stimme wurde eine Oktave tiefer und versickerte. »Wo war ich? Ja, die Party. Da war einer, der war etwas lebendiger als die meisten. Irgendwann früher war er mit einem Reisenden in einer Nachrichtenagentur liiert gewesen. Jetzt fungierte er als geheime Datenquelle, so unscheinbar, dass er nicht einmal im eigenen Netz dieser Agentur registriert war…
Jedenfalls waren die Forscher im Straumli-Labor — zumindest ein paar von ihnen — nicht so unvorsichtig, wie Sie sagen. Sie argwöhnten eine perverse Fehlentwicklung und waren entschlossen, sie zu sabotieren.«
Das war in der Tat eine Neuigkeit, aber… »Sieht nicht so aus, als ob sie viel Erfolg gehabt hätten, oder?«
»Ich stimme dem zu. Sie haben es nicht verhindert, aber sie hatten vor, von dem Laborplaneten mit zwei Sternenschiffen zu fliehen. Und sie schafften es, die Nachricht von ihrem Versuch in Kanäle einzuspeisen, die zu meinem Gesprächspartner auf der Strandparty führten. Und jetzt kommt das Wichtige: Mindestens eins von diesen Schiffen sollte einige Abschlusselemente vom Rezept der PERVERSION fortbringen — bevor sie in den Entwurf eingefügt wurden.«
»Gewiss gab es Sicherheitskopien…«, begann Pham Nuwen.
Ravna hieß ihn mit einer Handbewegung schweigen. Für diesen Abend hatte es genug Grundschulerklärungen gegeben. Das war unglaublich. Sie hatte die Nachrichten über den Straumli-Bereich so intensiv wie nur jemand verfolgt. Der Bereich war die erste Tochterkolonie von Sjandra Kei im Hohen Jenseits; es war schrecklich, ihn vernichtet zu sehen. Doch nirgendwo in der Gruppe ›Bedrohungen‹ war auch nur gerüchtweise davon die Rede gewesen, dass die PERVERSION womöglich nicht vollständig war. »Wenn das wahr ist, dann haben die Straumer vielleicht eine Chance. Es hängt alles davon ab, welche Teile des Bauplans fehlen.«
»Genau. Und natürlich war das auch den Menschen klar. Sie hatten vor, geradewegs zum Grunde des Jenseits zu fliegen und sich dort mit ihren Verschworenen von Straum zu treffen.«
Was nie geschehen würde — wenn man das totale Ausmaß der Katastrophe bedachte. Ravna lehnte sich zurück; zum ersten Mal seit vielen Stunden hatte sie Pham Nuwen ganz vergessen. Höchstwahrscheinlich waren inzwischen beide Schiffe vernichtet. Wenn nicht — nun, die Straumer waren wenigstens halbwegs schlau gewesen, als sie Kurs zum Grund hin einschlugen. Wenn sie das hatten, was Blaustiel in ihrem Besitz glaubte, würde die PERVERSION sehr daran interessiert sein, sie zu finden. Kein Wunder, dass Blaustiel und Grünmuschel das nicht den Nachrichtengruppen mitgeteilt hatten. »Sie wissen also, wo sie sich treffen wollten?«
»Ungefähr.«
Grünmuschel schnarrte ihm etwas zu.
»Nicht wir selbst«, sagte er. »Die Koordinaten sind sicher in unserem Schiff verwahrt. Doch das ist noch nicht alles. Die Straumer hatten einen Reserveplan, falls das Rendezvous nicht gelingen sollte. Sie hatten vor, mit der Ultrawelle ihres Schiffs ein Signal an Relais zu senden.«
»Moment mal. Wie groß ist das Schiff denn?« Ravna war kein Ingenieur für die physische Ebene, doch sie wusste, dass Relais’ Basis-Transceiver eigentlich Schwärme von Antennenelementen waren, über etliche Lichtjahre hinweg verteilt, wobei jedes Element zehntausend Kilometer maß.
Blaustiel rollte vor und zurück, eine rasche Geste, die Erregung bedeutete. »Wir wissen es nicht, aber es ist nichts Besonderes. Wenn man nicht mit einer großen Antenne exakt in die Richtung schaut, ist es von hier aus nicht auszumachen.«
Grünmuschel fügte hinzu: »Wir glauben, dass das Teil ihres Planes war, obwohl das der Gipfel der Verzweiflungstaten ist. Seit wir bei Relais eingetroffen sind, sprechen wir mit der Org…«
»Diskret! Leise!«, warf Blaustiel abrupt ein.
»Ja. Wir haben die Organisation gebeten, nach diesem Schiff Ausschau zu halten. Ich fürchte, wir haben nicht mit den richtigen Leuten gesprochen. Niemand scheint uns sonderlich viel Glauben zu schenken. Immerhin stammt die Geschichte letzten Endes von einem Minderen Fahrer.« Nun ja. Was konnten die schon wissen, was weniger als hundert Jahre alt war? »Worum wir bitten, würde normalerweise sehr viel kosten, und anscheinend sind die Preise zur Zeit besonders hoch.«
Ravna versuchte ihre Begeisterung im Zaum zu halten. Wenn sie davon in einer Nachrichtengruppe gelesen hätte, wäre es einfach noch so ein interessantes Gerücht gewesen. Warum sollte sie beeindruckt sein, nur weil sie es von Angesicht zu Angesicht erzählt bekam? Bei den MÄCHTEN, welch eine Ironie. Hunderte von Kunden von der Obergrenze und aus dem Transzens — sogar der ALTE — befriedigten ihre Neugier über die Straumli-Katastrophe bis an die Grenzen von Relais’ Kapazität. Wie, wenn die Antwort die ganze Zeit über vor ihren Augen gesessen hätte, von eben diesem Eifer ihrer Nachforschungen in den Hintergrund gedrängt? »Mit wem haben Sie denn gesprochen? Ach, egal.« Vielleicht sollte sie einfach mit der Geschichte zu Grondr ’Kalir gehen. »Ich glaube, Sie sollten erfahren, dass ich eine« — sehr untergeordnete! — »Angestellte der Vrinimi-Organisation bin. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
Sie hatte angesichts solch eines glücklichen Zusammentreffens etwas Überraschung erwartet. Stattdessen trat eine Pause ein. Anscheinend hatte Blaustiel vergessen, an welcher Stelle in der Unterhaltung er war. Schließlich sprach Grünmuschel. »Ich erröte… Sehen Sie, wir haben das gewusst. Blaustiel hat Sie im Verzeichnis der Angestellten ausfindig gemacht; Sie sind der einzige Mensch in der Org. Sie sind nicht in der Kundenkontakt-Abteilung, aber wir dachten, wenn wir es mit Ihnen versuchten, würden Sie uns vielleicht freundlicherweise anhören.«
Blaustiels Ranken fuhren mit einem scharfen Rascheln zusammen. War er irritiert? Oder hatte er endlich wieder den Gesprächsfaden gefunden? »Ja. Gut, da wir alle derart offen reden, sollte ich wohl gestehen, dass es uns möglicherweise zum Nutzen gereichen kann. Wenn das Schiff der Flüchtlinge nachzuweisen vermag, dass die PERVERSION kein vollständiges Exemplar der Klasse Zwei ist, dann können wir unsere Kunden vielleicht davon überzeugen, dass unsere Fracht nicht kompromittiert ist. Wenn sie es nur wüssten, würden Ihnen meine Freunde, die Beglaubiger, zu Füßen liegen, meine Dame Ravna.«
Sie blieben bis nach Mitternacht in der Wandergesellschaft. Das Geschäft belebte sich zu dem allnächtlichen Höhepunkt, als etliche neue Gäste eintrafen. Ringsum standen die rauen Laute von Vorführungen in der Diele und an den Tischen. Phams Blick sprang hin und her, während er alles in sich aufnahm. Doch am meisten schien er von Blaustiel und Grünmuschel fasziniert zu sein. Die beiden waren ausgeprägt nichtmenschlich, in mancher Beziehung sogar für Aliens fremdartig. Die Skrodfahrer gehörten zu den ganz wenigen Rassen, die lang andauernde Stabilität im Jenseits erlangt hatten. Die Aufspaltung in verschiedene Arten lag schon lange zurück; die Varietäten waren nach draußen gestrebt oder ausgestorben. Und noch immer gab es welche, die zu den alten Skrods passten — ein einzigartiges Gleichgewicht von Gestalt und maschineller Schnittstelle, das seit mehr als einer Milliarde Jahre hielt. Doch Blaustiel und Grünmuschel waren auch Kauffahrer, und als solche ähnelten sie in vielem dem, was Pham Nuwen im Langsam kennen gelernt hatte. Und obwohl sich Pham so ignorant wie eh und je verhielt, war seine Umgangsform diplomatischer geworden. Vielleicht drang ihm auch endlich die furchtgebietende Gewalt des Jenseits ins Bewusstsein. Bessere Tischgenossen hätte er nicht finden können. Als Rasse gaben sich die Skrodfahrer lieber trägen Erinnerungen als fast jeder anderen Tätigkeit hin. Nachdem sie ihre kritische Botschaft losgeworden waren, erzählten die beiden ziemlich bereitwillig von ihrem Leben im Jenseits, erklärten so viele Einzelheiten, wie der Barbar sich nur wünschen konnte. Die Beglaubiger mit den Rasiermesser-Kiefern tauchten nicht mehr auf.