Johannas Angriff war nicht geplant, vielleicht klappte er gerade deshalb so gut. Sie warf sich an der Feldflasche vorbei und schlang ihren freien Arm um den Hals des Wesens. Sie wälzte sich über das Tier und drückte es gegen den Bootsrumpf. Allein war es kleiner als sie und nicht stark genug, um sie abzuschütteln. Sie fühlte seine Krallen durch die Decken reichen, ohne sie indes zu verletzen. Sie legte ihr ganzes Gewicht auf das Rückgrat des Wesens, krallte sich fest, wo Kehle und Kiefer aufeinandertrafen, und begann seinen Kopf gegen das Holz zu schlagen.
Dann waren die anderen über ihr, Schnauzen, die unter sie fuhren, Kiefer, die ihren Ärmel packten. Sie fühlte Reihen von Zähnen gerade knapp durch den Stoff stechen. Ihre Körper surrten mit einem Klang aus ihren Träumen, einem Klang, der direkt durch ihre Kleidung drang und ihre Knochen erzittern ließ.
Sie zerrten ihre Hand von der Gurgel des anderen weg und drehten sie herum, sie fühlte, wie die Pfeilspitze innerlich an ihr riss. Doch eines konnte sie noch tun: Johanna stieß sich mit den Füßen ab, rammte ihren Kopf gegen den Kieferansatz des anderen und schmetterte so die Oberseite seines Kopfes gegen den Bootsrumpf. Die Körper rings um sie krampften sich zusammen, und sie wurde auf den Rücken geschleudert. Schmerz war das Einzige, was sie jetzt fühlen konnte. Weder Wut noch Angst konnten sie bewegen.
Dennoch nahm ein Teil von ihr die vier noch wahr. Sie hatte ihnen wehgetan. Sie hatten ihnen allen wehgetan. Drei taumelten umher und stießen pfeifende Laute aus, die diesmal aus ihren Mäulern zu kommen schienen. Der mit der Narbe am Hintern lag zuckend auf der Seite. Sie hatte eine sternförmige Wunde oben in seinen Kopf geschlagen. Blut tropfte an seinen Augen vorbei, rote Tränen.
Minuten verstrichen, und das Pfeifen hörte auf. Die vier Kreaturen drängten sich zusammen, und das vertraute Zischen begann wieder. Johannas Brust blutete wieder.
Sie starrten einander eine Zeit lang an. Sie lächelte ihren Feinden entgegen. Sie konnten verletzt werden. Sie fühlte sich besser denn je seit der Landung.
ELF
Vor der Flenser-Bewegung war Holzschnitzerheim der berühmteste Stadtstaat westlich der Eisfänge gewesen. Sein Gründer blickte auf sechs Jahrhunderte zurück. In jener Zeit war das Leben im Norden härter gewesen: Schnee hatte den größten Teil des Jahres hindurch sogar die Tiefebenen bedeckt. Der Holzschnitzer hatte allein angefangen, ein einzelnes Rudel in einer kleinen Hütte einer Inlandbucht. Das Rudel war Jäger und Denker ebenso wie Künstler. Im Umkreis von hundert Meilen hatte es keine Siedlung gegeben. Nur ein paar von den frühen Statuen des Schnitzers gelangten je aus seiner Hütte, doch diese Statuen hatten ihm ersten Ruhm eingebracht. Drei davon existierten noch. Es gab eine Stadt an den Langen Seen, die nach der einen Statue in ihrem Museum benannt war.
Mit dem Ruhm waren Schüler gekommen. Aus einer Hütte wurden zehn, verstreut über Holzschnitzers Fjord. Ein, zwei Jahrhunderte vergingen, und natürlich veränderte sich der Holzschnitzer allmählich. Er fürchtete die Veränderung, das Gefühl, dass seine Seele entwich. Er versuchte, sich selbst festzuhalten, fast jeder tut das in dem einen oder anderen Maße. Im schlimmsten Fall verfällt das Rudel in Perversion, wird vielleicht seelenleer. Für Holzschnitzer war die Suche selbst die Veränderung. Er studierte, wie sich jedes Glied in die Seele einfügt. Er studierte Welpen und ihre Aufzucht, und wie man den Beitrag eines Neuen abschätzen konnte. Er lernte die Seele zu formen, indem er die Glieder trainierte.
Natürlich war wenig davon neu. Es war die Grundlage der meisten Religionen, und jede Stadt hatte Liebesberater und Züchter. Solches Wissen, mag es den Tatsachen entsprechen oder nicht, ist in jeder Kultur wichtig. Holzschnitzer tat weiter nichts, als alles aus neuem Blickwinkel zu betrachten, ohne die traditionellen Vorurteile. Sanft experimentierte er an sich selbst und den anderen Künstlern in seiner kleinen Kolonie. Er beobachtete die Ergebnisse und benutzte sie zur Planung neuer Experimente. Er ließ sich eher von dem leiten, was er sah, als von dem, was er glauben wollte.
Nach den verschiedenen Normen seines Zeitalters war das, was er tat, Ketzerei oder Perversion oder einfach Wahnsinn. In den frühen Jahren wurde König Holzschnitzer fast ebenso gehasst, wie Flenser drei Jahrhunderte später. Aber der hohe Norden machte noch eine Periode harter Winter durch. Die Nationen des Südens konnten nicht ohne weiteres Armeen bis zu Holzschnitzer schicken. Und als sie es doch einmal taten, brachte er ihnen eine gründliche Niederlage bei. Und Holzschnitzer war weise genug, dass er niemals versuchte, den Süden zu unterwandern, zumindest nicht direkt. Doch seine Siedlung wuchs und wuchs, und der gute Ruf ihrer Kunst und ihrer Möbel verblasste vor ihrem Ruhm auf anderen Gebieten. Wer sich alt fühlte, reiste nach der Stadt und kam nicht gerade jünger, doch klüger und glücklicher zurück. Ideen strahlten von der Stadt aus: Webmaschinen, Zahnradgetriebe und Windmühlen, Fabrikanordnungen. Etwas Neues war an diesem Ort geschehen. Es waren nicht die Erfindungen. Es waren die Leute, denen Holzschnitzer zum Dasein verholten, und die Perspektive, die er geschaffen hatte.
Wickwracknarb und Yaqueramaphan erreichten Holzschnitzerheim am späten Nachmittag. Es hatte den größten Teil des Tages über geregnet, doch nun hatten sich die Wolken verzogen, und der Himmel war von jenem wolkenlosen Blau, das nach einer Reihe trüber Tage besonders schön ist.
Wanderer erschien Holzschnitzers Domäne wie ein Paradies. Er war die rudellose Wildnis müde. Er war es müde, sich um das Fremde zu sorgen.
Doppelrumpfboote eskortierten sie misstrauisch auf den letzten paar Meilen. Die Boote waren bewaffnet, und Wanderer und Schreiber kamen aus einer ganz falschen Richtung. Aber sie waren allein, offensichtlich harmlos. Langrufer tuteten und gaben ihre Geschichte voraus weiter. Als sie den Hafen erreichten, waren sie Helden, zwei Rudel, die den Schurken des Nordens einen nicht näher bezeichneten Schatz gestohlen hatten. Sie segelten um den Wellenbrecher, der bei Wanderers letztem Besuch noch nicht dagewesen war, und machten am Anlegeplatz fest.
Die Pier wimmelte von Soldaten und Wagen. Stadtvolk stand den ganzen Weg entlang, der hinauf zu den Stadtmauern führte.
Es kam einer Meutensituation so nahe, wie es nur ging, solange man noch nüchtern denken konnte. Schreiber sprang aus dem Boot und stolzierte herum, sichtlich erfreut über die Hochrufe von der Anhöhe. »Schnell! Wir müssen mit dem Holzschnitzer sprechen.«
Wickwracknarb nahm den Leinenbeutel, der den Bilderkasten des Fremden enthielt, und stieg vorsichtig aus dem Boot. Ihm war schwindlig von den Schlägen des Fremdwesens. Narbs Stirntrommelfell war bei dem Angriff gerissen. Für einen Augenblick verlor er sein Selbst. Die Pier war sehr seltsam — auf den ersten Blick von Stein, aber mit einem elastischen schwarzen Material verbunden, das er seit den Südmeeren nicht mehr gesehen hatte; hier im Norden hätte es spröder sein müssen… Wo bin ich? Ich sollte mich über etwas freuen, einen Sieg. Er hielt inne, um sich wieder zu sammeln. Nach einem Moment wurden sowohl der Schmerz als auch seine Gedanken schärfer; so würde es nun tagelang sein, mindestens. Hilfe für das Fremdwesen holen. Es an Land bringen.
König Holzschnitzers Reichskämmerer war ein größtenteils übergewichtiger Geck, Wanderer hätte nicht erwartet, so etwas in Holzschnitzerheim zu sehen. Doch der Bursche wurde sofort hilfsbereit, als er das Fremdwesen sah. Er ließ einen Arzt herabkommen, um nach dem Zweibeiner zu sehen — und bei der Gelegenheit auch nach Wanderer. Das Fremde hatte in den letzten beiden Tagen an Kraft gewonnen, es war aber nicht mehr zu Gewalttaten gekommen. Sie brachten es ohne größere Mühe an Land. Es starrte Wanderer aus seinem flachen Gesicht heraus an, ein Blick, in dem er ohnmächtige Wut erkannte. Er berührte Narbs Kopf nachdenklich… der Zweibeiner wartete nur auf die beste Gelegenheit, noch mehr Schaden anzurichten.