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Die Sonne glitt seitlich in die Berge, lange Schatten ergossen sich über das Ackerland. Flensers Burg wurde zur Insel in einem Meer von Schatten. Tyrathect konnte die Kälte riechen. Es würde diese Nacht wieder Frost geben. Am Morgen würden die Felder von falschem Schnee bedeckt sein, der eine Stunde nach Sonnenaufgang überdauern würde. Sie zog die langen Jacken fest um sich und ging zum östlichen Ausguck. Jenseits der Meerenge lag eine der nahen Anhöhen noch in der Sonne. Das fremde Schiff war dort gelandet. Es stand noch immer dort, nun aber hinter Holz und Stein. Stahl hatte unmittelbar nach der Landung zu bauen begonnen. In den Steinbrüchen am Nordende der Verborgenen Insel wurde jetzt mehr gearbeitet als jemals zu Flensers Zeit. Die Barken, die Steine zum Festland schafften, fuhren ständig über die Meerenge hin und her. Sogar jetzt, da es nicht mehr den ganzen Tag über hell blieb, gingen Stahls Bauarbeiten ohne Pause weiter. Seine Einrufe und die kleineren Inspektionen waren härter, als es Flensers gewesen waren.

Fürst Stahl war ein Mörder, schlimmer, ein Manipulator. Doch seit der Landung des Fremden wusste Tyrathect, dass er noch etwas anderes war: zu Tode geängstigt. Er hatte guten Grund. Und obwohl diejenigen, die er fürchtete, sie möglicherweise alle töten würden, wünschte sie ihnen im Geheimsten ihrer Seele das Beste. Stahl und seine Flenseristen hatten die Sternenleute ohne Warnung angegriffen, eher aus Gier als aus Angst. Sie hatten Dutzende von Fremdwesen umgebracht. In gewisser Weise waren diese Morde schlimmer als das, was die Bewegung ihr angetan hatte. Tyrathect war dem Flenser aus eigenem freiem Willen gefolgt. Sie hatte Freunde gehabt, die sie vor der Bewegung warnten. Es hatte düstere Geschichten über den Flenser gegeben, und nicht alle waren Regierungspropaganda. Aber sie hatte so sehr gewünscht, jemandem zu folgen, sich einer größeren Sache hinzugeben… Sie hatten sie buchstäblich als Werkzeug benutzt. Doch sie hätte es vermeiden können. Den Sternenleuten war diese Möglichkeit versagt gewesen, Stahl hatte sie einfach abgeschlachtet.

Sodass Stahl jetzt aus Angst am Werk war. An den ersten drei Tagen hatte er das fliegende Schiff mit einem Dach überzogen: ein versprengtes, dummes Bauernhaus war auf der Hügelkuppe erschienen. Nicht lange, und das fremde Gefährt würde hinter Steinwällen verborgen sein. Am Ende konnte die neue Festung größer als die auf der Verborgenen Insel sein. Stahl wusste, dass seine Schurkerei, wenn sie nicht sein Ende bedeutete, ihn zum mächtigsten Rudel der Welt machen würde.

Und ebendarum blieb Tyrathect hier, setzte sie ihre Maskerade fort. Sie konnte nicht ewig so weitermachen. Früher oder später würden die anderen Fragmente auf der Verborgenen Insel eintreffen, Tyrathect würde umgebracht werden und der ganze Flenser wieder leben. Vielleicht würde sie nicht einmal das erleben. Zwei von Tyrathect waren in der Tat von Flenser. Der Meister hatte sich verrechnet, als er glaubte, die beiden könnten die anderen drei beherrschen. Statt dessen hatte das Gewissen der drei den scharfen Verstand der beiden erworben. Sie erinnerte sich fast an alles, was der große Flenser gewusst hatte, all die Tricks und all den Verrat. Die beiden hatten ihr eine Intensität verliehen, die sie nie zuvor besessen hatte. Tyrathect lachte still in sich hinein. In gewissem Sinne hatte sie erlangt, was sie in der Bewegung so naiv gesucht hatte, und der große Flenser hatte genau den Fehler begangen, den er in seiner Arroganz für unmöglich hielt. Solange sie es vermochte, die beiden unter Kontrolle zu halten, hatte sie eine Chance. Wenn sie ganz wach war, gab es kaum Probleme; sie fühlte sich immer noch als ›sie‹ , erinnerte sich an ihr Leben in der Republik immer noch deutlicher als an Flensers Vergangenheit. Etwas anderes war es, wenn sie schlief. Sie hatte Alpträume. Die Erinnerungen an anderen zugefügte Qualen erschienen plötzlich süß. Sex während der Schlafenszeit sollte eigentlich besänftigen; bei ihr war es ein Kampf. Sie erwachte wund und wie zerschlagen, als hätte sie mit einem Vergewaltiger gekämpft. Wenn die beiden jemals die Oberhand gewännen, wenn sie jemals als ›Er‹ erwachte… Es würde nur ein paar Sekunden dauern, bis die beiden die Maskerade aufdeckten, und nur wenig mehr, um die drei zu töten und die Glieder Flensers einem besser lenkbaren Rudel zuzuteilen.

Dennoch blieb sie. Stahl hatte vor, die Fremden und ihr Schiff zu benutzen, um Flensers Alptraum weltweit zu verbreiten. Doch sein Plan war anfällig, mit Risiken gespickt. Wenn sie irgendetwas tun konnte, um den Plan und die Flenser-Bewegung scheitern zu lassen, würde sie es tun.

Auf der anderen Seite der Burg hing nur noch der Westturm im Sonnenlicht. Kein Gesicht zeigte sich in den Schießscharten, doch Augen blickten dahinter hervor: Stahl beobachtete das Flenser-Fragment — den Flenser im Wartestand, wie es sich nannte — auf der Mauerkrone weiter unten. Das Fragment wurde von allen Befehlshabern akzeptiert. Sie begegneten ihm fast mit der Ehrfurcht, die sie dem ganzen Flenser entgegengebracht hatten. In gewissem Sinne hatte Flenser sie alle erschaffen, es war also kein Wunder, dass es ihnen in der Gegenwart des Meisters kalt die Rücken hinablief. Sogar Stahl empfand so. Während er ihn formte, hatte Flenser den entstehenden Stahl zum Versuch gezwungen, ihn zu töten; jedesmal hatte man Stahl gefasst und seine schwächsten Glieder gefoltert. Stahl kannte die Konditionierung, die in ihm steckte, und das half ihm, dagegen anzukämpfen. Wenn es überhaupt eine Rolle spielte, sagte er sich, dann war deswegen das Flenser-Fragment in größerer Gefahr: Beim Versuch, der Furcht zu begegnen, konnte sich Stahl verrechnen und gewaltsamer handeln, als angebracht war.

Früher oder später musste sich Stahl entschließen. Wenn er es nicht umbrachte, bevor die anderen Fragmente die Verborgene Insel erreichten, dann würde der ganze Flenser wieder dasein. Wenn zwei Glieder Stahls Herrschaft dominieren konnten, dann würden sechs sie völlig auslöschen. Wollte er, dass der Meister tot wäre? Und wenn er es wollte, gab es einen absolut sicheren Weg?…

Stahls Gedanken kreisten flüchtig um diese Fragen, während er das schwarzgekleidete Rudel beobachtete.

Stahl war es gewohnt, um hohe Einsätze zu spielen. Er war geboren worden, indem er es tat. Furcht und Tod und Sieg waren sein ganzes Leben. Doch niemals war der Einsatz so hoch wie jetzt gewesen. Flenser war drauf und dran gewesen, die größte Nation auf dem Kontinent zu unterwandern, und hatte von der Weltherrschaft geträumt… Fürst Stahl schaute zu dem Hügel jenseits der Meerenge hinüber, auf die neue Burg, die er baute. In dem Spiel, das er jetzt spielte, würde die Eroberung der Welt ein Kinderspiel sein, wenn er siegte, und die Vernichtung der Welt wäre denkbar, wenn er verlor.

Stahl hatte das fliegende Schiff kurz nach dem Überfall besucht. Der Boden dampfte noch. Jede Stunde schien er heißer zu werden. Die Bauern auf dem Festland redeten von Dämonen, die in der Erde erwacht seien; Stahls Berater brachten kaum etwas Besseres zustande. Die Weißjacks brauchten gefütterte Stiefel, um näher herangehen zu können. Stahl hatte den Dampf ignoriert, die Stiefel angezogen und war unter den gekrümmten Schiffsrumpf gegangen. Das Unterteil erinnerte vage an den Rumpf eines Bootes, wenn man von den Stelzen absah. In der Nähe der Mitte gab es eine zitzenförmige Ausstülpung, im Boden unmittelbar darunter gurgelte geschmolzenes Gestein. Die ausgebrannten Särge standen hangaufwärts vom Schiff. Etliche von den Leichen waren herausgeholt worden, um seziert zu werden. In den ersten Stunden waren seine Berater voller phantastischer Theorien gewesen: dass die Pfahlwesen Krieger seien, die aus einer Schlacht geflohen und gekommen waren, um hier ihre Toten zu begraben…

Zu diesem Zeitpunkt war noch niemand imstande gewesen, das Innere des Fahrzeugs eingehend zu betrachten.

Die graue Leiter war aus etwas gemacht, das fest wie Stahl war, aber federleicht. Doch es war sichtlich eine Leiter, obwohl die Stufen für ein durchschnittliches Glied zu hoch waren. Stahl kletterte hinauf und ließ Sreck und seine übrigen Ratgeber draußen.