Ravna blickte über die Brandung hin. Wenn die Wellen über den Sand zurückrollten, sah sie die Wedel der Skrodfahrer aus der Gischt ragen. Wie sie sie beneidete: Wenn ihnen Spannungen lästig wurden, konnten sie sie einfach abschalten. Die Skrodfahrer gehörten zu den am weitesten verbreiteten Vernunftwesen im Jenseits. Es gab viele Abarten, doch in einem stimmten Analyse und Legenden überein: Vor sehr langer Zeit waren sie eine einzige Art gewesen. Irgendwann in der Vergangenheit außerhalb des Netzes waren sie sesshafte Bewohner von Meeresstränden gewesen. Sich selbst überlassen, hatten sie eine Form der Intelligenz entwickelt, der fast jedes Kurzzeitgedächtnis abging. Sie saßen in der Brandung und dachten Gedanken, die keine Spuren in ihrem Geist hinterließen. Nur die Wiederholung eines Stimulus über eine gewisse Zeit hinweg konnte das bewirken. Dennoch hatten die Intelligenz und das Gedächtnis, die sie besaßen, einen Überlebenswert: Sie ermöglichten es ihnen, die besten Stellen zum Ausstreuen ihres Puppensamens auszuwählen, Orte, die Sicherheit und Nahrung für die nächste Generation bedeuteten.
Dann war eine unbekannte Rasse auf die Träumer gestoßen und hatte beschlossen, ihnen ›aus der Klemme zu helfen‹ . Jemand hatte sie auf fahrbare Untersätze gesetzt, die Skrods. Mit Rädern konnten sie sich die Strände entlang bewegen, konnten mit ihren Wedeln und Ranken zufassen und hantieren. Mit Hilfe des mechanischen Kurzzeitgedächtnisses ihrer Skrods konnten sie schnell genug lernen, um von ihrer neu erworbenen Beweglichkeit nicht umgebracht zu werden.
Ravna wandte den Blick von den Skrodfahrern ab — jemand schwebte über die Bäume heran. Der Abgesandte Apparat. Vielleicht sollte sie Grünmuschel und Blaustiel aus dem Wasser rufen. Nein. Sollten sie es noch eine Weile genießen. Wenn sie es nicht fertigbrachte, die Spezialausrüstung zu bekommen, würde es für sie später noch schwer genug werden…
Außerdem komme ich auch ohne Zeugen aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Himmel. Die Vrinimi-Org hatte versucht, mit dem ALTEN darüber zu sprechen, doch neuerdings wollte die MACHT nur durch ihren Abgesandten Apparat agieren… und er hatte auf einem Treffen von Angesicht zu Angesicht bestanden.
Der Abgesandte landete ein paar Meter entfernt und verneigte sich. Sein schiefes Grinsen verdarb den Effekt. »Pham Nuwen, zu Diensten.«
Ravna deutete ihrerseits eine Verbeugung an und führte ihn in den Schatten ihres Büroinneren. Wenn er glaubte, sie Angesicht zu Angesicht nervös machen zu können, dann hatte er Recht. »Danke, dass Sie gekommen sind, mein Herr. Die Vrinimi-Org hat ein wichtiges Anliegen an Ihren Prinzipal« — Besitzer? Meister? Lenker?
Pham Nuwen ließ sich auf einen Stuhl fallen und räkelte sich. Seit jener Nacht in der Wandergesellschaft war er ihr nicht über den Weg gelaufen. Grondr sagte allerdings, dass der ALTE ihn bei Relais behielt und die Archive nach Information über die Menschheit und ihre Ursprünge durchforsten ließ. Es ergab jetzt Sinn, dass der ALTE überredet worden war, seine Netznutzung einzuschränken: Der Abgesandte konnte die Information vor Ort verarbeiten, d.h. menschliche Intelligenz für die Suche und Zusammenfassung verwenden und nur das nach oben weitergeben, was der ALTE wirklich brauchte.
Ravna beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während sie vorgab, ihr Datio zu studieren. Pham hatte sein altes, träges Lächeln. Sie fragte sich, ob sie wohl jemals den Mut aufbringen würde, sich bei ihm zu erkundigen, wie viel an ihrer… Affäre… menschlich gewesen war. Hatte Pham Nuwen etwas für sie empfunden? Verdammt, hatte er wenigstens Spaß daran gehabt?
Aus transzendentem Blickwinkel war er vielleicht ein einfaches Gerät zur Verdichtung von Daten und für ferngesteuerte Manipulationen — doch aus ihrer Sicht war er immer noch ein Mensch. »Äh… ja… Also… Die Org hat das Flüchtlingsschiff der Straumer weiterhin beobachtet, obwohl Ihr Prinzipal das Interesse verloren hat.«
Phams Augenbrauen hoben sich mit höflichem Interesse. »Oh?«
»Vor zehn Tagen ist das einfache Signal ›Hier bin ich‹ von einer neuen Botschaft unterbrochen worden, anscheinend von einem überlebenden Besatzungsmitglied.«
»Gratulation. Ihr habt es geschafft, das geheim zu halten, sogar vor mir.«
Ravna nahm den Köder nicht an. »Wir tun unser Bestes, um es vor jedermann geheim zu halten, mein Herr. Aus Gründen, die Sie kennen müssen.« Sie legte die bisherigen Botschaften auf einen Bildschirm zwischen ihnen. Eine Handvoll von Rufen und Antworten, über zehn Tage verstreut. Die Triskweline-Übersetzung für Pham enthielt nicht mehr die ursprünglichen grammatischen und Schreibfehler, doch der Tonfall blieb unverändert. Ravna war auf sehen der Org für die Gespräche zuständig. Es war, als spräche man in einem dunklen Zimmer mit jemandem, den man nie gesehen hat. Manches konnte man sich leicht vorstellen: eine schrille, fiepsige Stimme hinter den großgeschriebenen Worten und den Ausrufezeichen. Sie besaß keine Videoaufnahme von dem Kind, aber über das Menschheits-Archiv bei Sjandra Kei hatte die Marketing-Abteilung Bilder von den Eltern des Jungen aufgetrieben. Sie sahen wie typische Straumer aus, aber mit den braunen Augen der Linden-Sippen. Der kleine Jefri dürfte schlank und dunkel sein.
Pham Nuwens Blick huschte über den Text abwärts und schien dann an den letzten paar Zeilen hängen zu bleiben:
Org[17]: Wie alt bist du, Jefri?
Ziel[18]: Ich bin acht. Ich meine, ich bin acht Jahre alt. ICH BIN ALT GENUG, ABER ICH BRAUCHE HILFE.
Org[18]: Wir werden helfen. Wir kommen so schnell wir können, Jefri.
Ziel[19]: Tut mir Leid, dass ich gestern nicht reden konnte. Die bösen Leute waren gestern wieder auf dem Berg. Es war gefährlich zum Schiff zu gehen.
Org[19]: Sind die Bösen so nahe?
Ziel[20]: Ja ja. Ich konnte sie von der Insel sehen. Ich bin jetzt mit Amdi im Schiff, aber als wir heraufgekommen sind, waren überall tote Soldaten. Holzschnitzerin macht hier oft Überfälle. Mutter ist tot. Vater ist tot. Johanna ist tot. Herr Stahl wird mich beschützen, so gut wie er kann. Er sagt ich muss tapfer sein.
Für einen Moment verschwand sein Lächeln. »Armer Junge«, sagte er leise. Dann zuckte er die Achseln und stieß mit der Hand nach einer der Botschaften. »Gut, ich bin froh, dass Vrinimi eine Rettungsexpedition ausschickt. Das ist großzügig von euch.«
»Eigentlich nicht, mein Herr. Schauen Sie sich die Nummern sechs bis vierzehn an. Der Junge beklagt sich über die Automatik des Schiffes.«
»Tja, bei ihm klingt das wie aus einer grauen Vorzeit: Tastaturen und Bildschirme, keine Stimmerkennung. Eine ganz und gar benutzerunfreundliche Schnittstelle. Sieht aus, als ob die Bruchlandung ziemlich alles zu Schrott gemacht hat, hm?«
Er war ausgesucht begriffsstutzig, doch Ravna hatte beschlossen, grenzenlose Geduld zu beweisen. »Vielleicht nicht, wenn man die Herkunft des Schiffes bedenkt.« Pham lächelte nur, also fuhr Ravna mit ihren Erklärungen fort. »Die Prozessoren stammen wahrscheinlich aus dem Hohen Jenseits oder dem Transzens und sind von ihrer gegenwärtigen Umgebung auf fast idiotisches Niveau beschränkt worden.«
Pham Nuwen seufzte. »Passt alles zur Theorie der Skrodfahrer, nicht wahr? Ihr hofft immer noch, dass diese Kiste irgendein gewaltiges Geheimnis birgt, das die PEST wegpustet.«