Johanna war in den mittleren Breiten von Straum aufgewachsen. Die meisten von ihren Schulausflügen hatten in den Weltraum geführt, wo seltsame Sonnengeometrien keine große Sache waren. Irgendwie hatte sie nie daran gedacht, dass so etwas am Boden geschehen könnte… Ich meine, dass man die Sonne geradewegs über den Gipfel der Welt hinweg sieht.
Die erste Aufgabe war es, die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen ins Freie zu bringen und die an Bord verbleibenden neu anzuordnen. Mutti hatte ausgerechnet, dass die Temperaturprobleme dann so ziemlich verschwinden würden, sogar für die an Bord belassenen Zellen. »Dass sie eigene Energiequellen und Belüftung haben, wird nun von Vorteil sein. Die Kinder werden alle sicher sein. Johanna, du kontrollierst Jefris Arbeit mit denen drinnen, ja?…«
Die zweite Aufgabe würde es sein, mit einem Suchprogramm das Relais-System anzupeilen und Ultralichtverbindung herzustellen. Johanna fürchtete sich ein wenig vor diesem Schritt. Was würden sie erfahren? Sie wussten bereits, dass das Hochlabor dem Bösen verfallen war und die von Mutti vorhergesagte Katastrophe begonnen hatte.
Wie viel vom Straumli-Bereich war jetzt tot? Jedermann im Hochlabor hatte geglaubt, sie täten so viel Gutes, und nun… Denk nicht daran. Vielleicht konnten die Leute von Relais helfen. Irgendwo musste es jemanden geben, der gebrauchen konnte, was ihre Leute aus dem Labor mitgebracht hatten.
Man würde sie retten und die übrigen Kinder wiederbeleben. Sie hatte deswegen Schuldgefühle gehabt. Gewiss, Mutti und Vati brauchten gerade gegen Ende des Fluges Hilfe — und Johanna war eins der ältesten Kinder in der Schule. Doch es kam ihr falsch vor, dass sie und Jefri die einzigen Kinder waren, die sehenden Auges an der Sache beteiligt waren. Als sie niedergingen, hatte sie die Angst ihrer Mutter gefühlt. Ich wette, sie wollte uns beisammen haben, und sei es ein letztes Mal. Die Landung war in der Tat gefährlich gewesen, so leicht Vati es auch erscheinen ließ. Johanna konnte sehen, wo die zurückschlagenden Gase sich in den Rumpf gefressen hatten; wenn auch nur das mindeste davon durch den Feuerstrahl hindurch und in die Brennkammer gelangt wäre, wären sie jetzt alle ein Dunstwölkchen.
Fast die Hälfte der Kälteschlaf-Zellen war jetzt am Boden, an der Ostseite des Bootes. Mutti und Vati rückten sie auseinander, damit die Kühler keine Probleme hätten. Jefri war drinnen und sah nach, ob von den restlichen Zellen welche besondere Aufmerksamkeit benötigten. Er war ein guter Junge, wenn er nicht gerade mal ein Balg war. Sie wandte sich dem Sonnenschein zu, fühlte die kühle Brise über den Hügel hinwegwehen. Sie hörte etwas, das wie ein Vogelruf klang.
Johanna war draußen bei einem der Schallprojektoren, als der Überfall losbrach. Sie hatte ihr Datio an die Regler des Projektors gesteckt und war dabei, neue Anweisungen einzugeben. Das zeigte, wie wenig ihnen geblieben war, dass selbst ihr altes Datio jetzt wichtig war. Doch Vati wollte, dass die Projektoren ein möglichst breites Bandspektrum überstrichen, dabei ständig eine Menge Krach machten, aber immer wieder mit besonders lauten Spitzen; ihr Rosa Olifant wurde damit gewiss fertig.
»Johanna!« Muttis Schrei kam gleichzeitig mit dem Klang brechender Keramik. Die Glocke des Projektors fiel neben ihr in Stücken zu Boden. Johanna blickte auf. Etwas stieß ihr neben der Achsel durch die Brust und warf sie nieder. Entgeistert starrte sie auf den Schaft, der aus ihr hervorragte. Ein Pfeil!
Der Westrand ihres Landeplatzes wimmelte von… Wesen. Wie Wölfe oder Hunde, doch mit langen Hälsen, bewegten sie sich rasch voran, von einer Bodenerhebung zur anderen schnellend. Ihr Fell war vom selben Grün wie der Hügel, außer in der Nähe der Lenden, wo sie Weiß und Schwarz sah. Nein, das Grüne war Kleidung, Jacken. Johanna stand unter Schockwirkung, den Druck des Bolzens durch ihre Brust nahm sie noch nicht als Schmerz wahr. Sie war rücklings gegen aufgeworfenen Grasboden geschleudert worden und übersah einen Augenblick lang den ganzen Angriff. Sie sah weitere Pfeile aufsteigen, dunkle Striche, die über den Himmel glitten.
Sie konnte jetzt die Bogenschützen ausmachen. Noch mehr Hunde! Sie bewegten sich in Rudeln. Es waren ihrer zwei nötig, um einen Bogen zu gebrauchen — einen, der ihn hielt, und einen, der ihn spannte. Der dritte und vierte trugen Köcher mit Pfeilen und schienen nur zuzusehen.
Die Bogenschützen hielten sich zurück, sie blieben größtenteils in Deckung. Andere Rudel wirbelten von der Seite heran und sprangen jetzt über die Bodenwellen. Viele trugen Beile in den Schnauzen. Metallklauen schimmerten an ihren Pfoten. Sie hörte das Klicken von Vatis Pistole. Die Welle der Angreifer kam ins Stolpern, als Einzelne zusammenbrachen. Die anderen rannten weiter, sie knurrten jetzt. Das war der Klang des Wahnsinns, nicht das Bellen von Hunden. Sie fühlte die Geräusche in ihren Zähnen, wie Blasti-Musik aus einem großen Lautsprecher. Rachen und Krallen und Messer und Lärm.
Sie warf sich auf die Seite und versuchte, zurück zum Boot zu schauen. Jetzt war der Schmerz wirklich. Sie schrie, doch ihr Schrei verlor sich in dem Wahnsinn. Die Meute rannte an ihr vorbei, auf Mutti und Vati zu. Ihre Eltern kauerten hinter einer Andockstütze. Pausenlos blitzte die Pistole in Arne Olsndots Hand auf. Sein Skaphander hatte ihn vor den Pfeilen bewahrt.
Die Leichen der Wesen türmten sich. Die Pistole mit ihren sinnreichen Miniaturpfeilen war von tödlicher Wirkung. Sie sah, wie er Mutti die Pistole gab und unter dem Boot hervor auf sie zu rannte. Johanna streckte ihren freien Arm nach ihm aus und schrie, dass er zurückginge.
Dreißig Meter. Fünfundzwanzig. Muttis Feuerschutz trieb links und rechts von ihnen die Wölfe zurück. Ein Schwarm Pfeile senkte sich auf Olsndot, während er rannte, die Arme zum Schutz über den Kopf erhoben. Zwanzig Meter.
Ein Wolf sprang hoch über Johanna. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf sein kurzes Fell und das narbenbedeckte Hinterteil. Olsndot lief im Zickzack, um seiner Frau freies Schussfeld zu geben, doch der Wolf war zu schnell. Er folgte seinen Bewegungen, während er rennend die Lücke schloss. Er sprang, Metall glitzerte an seinen Pfoten. Johanna sah Rotes aus Vatis Hals spritzen, und dann lagen sie beide am Boden.
Einen Augenblick lang hielt Sjana Olsndot mit Schießen inne. Das genügte. Die Meute teilte sich, und eine große Gruppe lief gezielt auf das Boot zu. Sie hatten eine Art Tanks auf den Rücken. Das Leittier hielt einen Schlauch im Maul. Eine dunkle Flüssigkeit spritzte daraus hervor — und verschwand in einem Ausbruch von Feuer. Das Wolfsrudel strich mit seinem primitiven Flammenwerfer über den Boden, über die Stütze, wo Sjana Olsndot stand, über die Reihen von Schulkindern im Kälteschlaf.
Johanna sah, wie sich etwas in den Flammen und dem teerigen Rauch bewegte und wand, sah das leichte Plastik der Kälteschlaf-Zellen zusammensacken und fließen.
Johanna drehte ihr Gesicht zur Erde, stützte sich dann auf den unversehrten Arm und versuchte auf das Boot, auf die Flammen zuzukriechen. Und dann umfing sie gnädige Dunkelheit, und sie nahm nichts mehr wahr.
VIER
Wanderer und Schreiber beobachteten den ganzen Nachmittag die Vorbereitungen für den Überfalclass="underline" Infanterie auf dem Hang westlich des Landeplatzes in Stellung, Bogenschützen dahinter, Soldaten mit Flammenwerfern in Stoßformation. Begriffen die Herren von Flenserburg, was ihnen gegenüberstand? Die beiden diskutierten die Frage wieder und wieder. Yaqueramaphan glaubte, die Flenseristen wüssten es, ihre Arroganz sei so groß, dass sie einfach erwarteten, die Beute rasch greifen zu können. »Sie gehen einem an die Kehle, bevor die andere Seite überhaupt weiß, dass es einen Kampf gibt. Das hat schon früher geklappt.«
Wanderer antwortete nicht gleich. Schreiber konnte Recht haben. Es war fünfzig Jahre her, dass er in diesem Teil der Welt gewesen war. Damals war Flensers Kult unbedeutend gewesen (und nicht weiter interessant im Vergleich zu dem, was es anderswo auf der Welt gab).