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Wenn es Nacht wurde, scheuchte Holzschnitzerin die anderen Rudel fort. Sie hockte sich rings um die Feuergrube und fragte das Datio Dinge, die keine ersichtliche Beziehung zum Kampf gegen die Flenseristen hatten. Johanna saß bei ihr und versuchte zu erklären, was Holzschnitzerin nicht verstanden hatte. Es war seltsam. Holzschnitzerin war etwas sehr Ähnliches wie die Königin dieser Leute. Sie hatte diese gewaltige (primitive, unbequeme, hässliche, aber doch gewaltige) Burg. Sie hatte Dutzende von Dienern. Dennoch verbrachte sie den größten Teil jeder Nacht in dieser kleinen Holzhütte bei Johanna und kümmerte sich um das Feuer und ums Essen mindestens ebenso wie das Rudel, das vor ihr hier gewesen war.

So kam es, dass Holzschnitzerin Johannas zweite Freundin unter den Klauenwesen wurde. (Schreiber war der erste Freund gewesen, obwohl sie es erst nach seinem Tode erkannt hatte.) Holzschnitzerin war sehr klug und sehr seltsam. In mancher Beziehung war sie die klügste Person, der Johanna jemals begegnet war, obwohl sich diese Schlussfolgerung erst allmählich einstellte. Sie war nicht wirklich überrascht gewesen, als die Klauenwesen Samnorsk schnell erlernten — so war es in den meisten Abenteuergeschichten, und vor allem hatten sie ja die Sprachlernprogramme im Datio. Aber Nacht für Nacht beobachtete Johanna, wie Holzschnitzerin mit dem Datio spielte. Das Rudel interessierte sich nicht für die Militärtaktik und die Chemie, die sie den ganzen Tag über in Beschlag nahmen. Statt dessen las sie über die Langsame Zone und das Jenseits und die Geschichte des Straumli-Bereichs. Sie hatte das diskursive Lesen schneller als alle anderen erlernt. Manchmal saß Johanna einfach da und starrte ihr über die Schultern. Der Bildschirm war in Fenster aufgeteilt, und der Text im Hauptfenster rollte viel schneller, als Johanna folgen konnte. Ein Dutzendmal pro Minute mochte Holzschnitzerin auf Wörter stoßen, die sie nicht kannte. Die meisten waren einfach unbekanntes Samnorsk: Holzschnitzerin tippte mit einer Nase auf das störrische Wort, und in einem Lexikon-Fenster blitzte kurz eine Definition auf. Anderes war eine Frage der Konzepte, und die neuen Fenster führten das Rudel in andere Gebiete, manchmal nur für ein paar Sekunden, manchmal für viele Minuten — und manchmal wurde die Abschweifung zum neuen Hauptpfad. In gewisser Weise war sie all das, was Schreiber so gern gewesen wäre.

Oft hatte sie Fragen, die das Datio nicht wirklich beantworten konnte. Sie und Johanna sprachen dann bis spät in die Nacht miteinander. Wie war die menschliche Familie? Was hatte der Straumli-Bereich im Hochlabor tun wollen? Johanna dachte nicht länger, die meisten Rudel seien Banden von schlangenhalsigen Ratten. Lange nach Mitternacht war der Bildschirm des Datios heller als das graue Licht aus der Feuergrube. Es zeichnete die Rücken Holzschnitzerins in heiteren Farben. Das Rudel hatte sich um sie versammelt und blickte zu ihr auf, fast wie Kinder zu einem Lehrer.

Doch Holzschnitzerin war kein Kind. Beinahe von Anfang an war sie alt erschienen. In diesen Gesprächen spät in der Nacht begann Johanna, auch etwas über die Klauenwesen zu lernen. Das Rudel sagte Dinge, die es tagsüber nie erwähnte. Größtenteils mussten diese Dinge für andere Klauenwesen selbstverständlich sein, obwohl man niemals darüber sprach. Das Menschenmädchen fragte sich, ob Königin Holzschnitzerin jemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte.

Nur eins von Holzschnitzerins Gliedern war körperlich alt, zwei waren kaum mehr als Welpen. Das Grundmuster des Rudels aber war ein halbes Jahrtausend alt. Und das machte sich bemerkbar. Holzschnitzerins Seele wurde fast nur noch von schierer Willenskraft zusammengehalten. Der Preis der Unsterblichkeit war Inzucht gewesen. Der Grundstock war gesund gewesen, aber nach sechshundert Jahren… Eins von ihren jüngsten Gliedern musste immerfort sabbern, sie hielt ihm ständig ein Tuch ans Maul. Ein anderes hatte milchweise Augen anstelle tiefbrauner. Holzschnitzerin sagte, es sei stockblind, aber gesund und ihr bester Sprecher. Ihr ältestes Glied war sichtlich hinfällig, es schnappte immerzu nach Luft. Leider, sagte Holzschnitzerin, war es das aufgeweckteste und schöpferischste von allen. Wenn es starb…

Nachdem sie erst einmal danach suchte, konnte Johanna die Schwäche in der ganzen Holzschnitzerin sehen. Selbst die beiden gesündesten Glieder, kräftig und mit üppigem Fell, gingen ein wenig seltsam, verglichen mit normalen Rudelgliedern. Lag das an Deformationen des Rückens? Die beiden wurden auch dicker, was die Sache nicht vereinfachte.

Johanna erfuhr das alles nicht auf einmal. Holzschnitzerin hatte ihr von verschiedenen Angelegenheiten der Klauenwesen erzählt, und allmählich war auch ihre eigene Geschichte zum Vorschein gekommen. Sie schien froh zu sein, sich jemandem anvertrauen zu können, aber Johanna bemerkte ein wenig Selbstmitleid in ihr. Holzschnitzerin hatte diesen Weg gewählt — anscheinend hielten das manche für pervers — und länger als jedes andere Rudel in der überlieferten Geschichte den Wechselfällen der Wahrscheinlichkeit getrotzt. Sie war von Wehmut ergriffen, dass ihr Glück sie endlich doch im Stich ließ.

Die Architektur der Klauenwesen neigte zu Extremen — von grotesker Übergröße oder zu eng für Menschen. Holzschnitzerins Ratskammer lag am oberen Ende der Skala, es war kein gemütlicher Ort. In dem als Senke geformten Raum hätten dreihundert Menschen Platz gefunden, und das bequem. Die unterteilten Galerien, die rings an den oberen Wänden entlangliefen, hätten weitere hundert fassen können.

Johanna war schon früher oft genug hier gewesen, hier wurde die meiste Arbeit mit dem Datio getan. Für gewöhnlich waren sie selbst und Holzschnitzerin anwesend, und wer immer gerade Information benötigte. An diesem Tag war es anders, es ging überhaupt nicht um das Datio: Es war Johannas erste Ratsversammlung. Zwölf Rudel gehörten zum Hohen Rat, und sie waren alle da. Jede Loge enthielt ein Rudel, und drei standen am Boden. Johanna wusste mittlerweile genug über die Klauenwesen, um zu sehen, dass trotz all den leeren Zwischenräumen der Ort schrecklich überfüllt war. In der Luft hingen die Denkgeräusche von fünfzehn Rudeln. Ungeachtet all der gepolsterten Wandbehänge spürte sie ab und zu ein Surren im Kopf oder vom Geländer her in den Händen.

Johanna stand mit Holzschnitzerin auf dem größten Balkon. Als sie anlangten, befand sich Feilonius schon unten im Parterre und ordnete Diagramme. Während sich die Rudel des Rates erhoben, schaute er empor und sagte etwas zu Holzschnitzerin. Die Königin antwortete in Samnorsk: »Ich weiß, dass es den Ablauf verzögern wird, aber vielleicht ist das gut so.« Sie stieß ein menschliches Lachen aus.

Wanderer Wickwracknarb stand in der nächsten Loge, ganz wie ein Ratsrudel. Seltsam. Johanna hatte noch nicht herausgefunden, warum, aber Narbenhintern schien einer von Holzschnitzerins Favoriten zu sein. »Pilger, würdest du für Johanna übersetzen?«

Pilger ließ etliche Köpfe hochschnellen. »Ist… ist das in Ordnung, Johanna?«

Das Mädchen zögerte, dann nickte sie. Es hatte Sinn. Nach Holzschnitzerin sprach Pilger besser Samnorsk als jeder andere von ihnen. Als sich Holzschnitzerin hinsetzte, nahm sie das Datio von Johanna und ließ es aufschnappen. Johanna blickte auf die Zeichen auf dem Schirm. Sie hat sich Notizen gemacht. Sie konnte sich ihrer Überraschung kaum bewusst werden, ehe die Königin wieder sprach — diesmal in den kollernden Lauten der Zwischenrudel-Sprache. Nach einer Sekunde begann Pilger zu übersetzen:

»Setzt euch bitte alle. Hockt euch hin. Diese Versammlung ist auch so schon voll genug.« Johanna hätte fast gelächelt. Pilger Wickwracknarb war ziemlich gut. Er ahmte die menschliche Stimme Holzschnitzerins perfekt nach. Seine Übersetzung vermittelte sogar die trockene Autorität ihrer Rede.