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Scrupilo trat von der Kanone zurück und sagte laut: »Es ist alles richtig, dass ich jetzt anfangen kann?« Zwei von ihm blickten nervös auf die Ratsmitglieder hinter der Böschung.

»Äh… ja… es sieht gut aus.« Kein Wunder, die Konstruktion war unmittelbar von den nyjoranischen Modellen in Johannas Geschichtsdateien kopiert. »Aber sei vorsichtig — wenn es nicht richtig funktioniert, kann es jeden in der Nähe umbringen.«

»Ja, ja.« Nachdem er ihre offizielle Billigung erhalten hatte, kam Scrupilo auf ihre Seite des Geschützes und scheuchte sie hinter die Deckung. Während sie nach hinten zu Holzschnitzerin ging, redete er in der Klauensprache weiter, zweifellos erläuterte er den Versuch.

»Glaubst du, dass es klappen wird?«, fragte Holzschnitzerin sie leise. Sie wirkte noch gebrechlicher als sonst. Man hatte auf dem feuchten Heidekraut hinter der Böschung eine gewebte Matte für sie ausgebreitet. Die meisten von ihr lagen still, die Köpfe zwischen den Pfoten. Das Blinde sah aus, als schliefe es; der junge Sabberer kuschelte sich an es und zuckte nervös. Wie üblich, war Wanderer Wickwracknarb in der Nähe, doch er übersetzte jetzt nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Scrupilo.

Johanna dachte an das Stroh, das Scrupilo in den Gussformen verwendet hatte. Holzschnitzerins Leute versuchten ihr wirklich zu helfen, aber… Sie schüttelte den Kopf. »Ich… Wer weiß.« Sie kniete sich hin und schaute über die Böschung. Das Ganze sah wie eine Zirkusnummer aus einer Geschichtsdatei aus. Da waren die Tiere, die auftraten, da die Kanone. Es gab sogar ein Zirkuszelt: Feilonius hatte darauf bestanden, die Operation vor den Blicken möglicher Spione in den Bergen abzuschirmen. Der Feind sah vielleicht etwas, aber je länger es Stahl an Einzelheiten fehlte, um so besser.

Das Scrupilo-Rudel machte sich bei der Kanone zu schaffen und redete die ganze Zeit. Zwei von ihm hievten ein Pulverfässchen hoch, und er begann, das Zeug ins Rohr zu schütten. Ein Pfropfen von Seidenpapier folgte dem Pulver. Er stopfte ihn fest, dann lud er die Kanonenkugel. Gleichzeitig drehten seine übrigen den Wagen herum, sodass er aus dem Zelt hinaus zeigte.

Sie waren an der Waldseite des Burghofes, zwischen der alten und der neuen Mauer. Johanna konnte ein Stückchen grünen Abhang sehen, dazu tiefhängende Nieselwolken. Etwa hundert Meter entfernt befand sich die alte Mauer. Es war derselbe Mauerzug, wo Schreiber ermordet worden war. Selbst wenn die verdammte Kanone nicht explodierte, hatte niemand eine Ahnung, wie weit der Schuss gehen würde. Johanna hätte gewettet, dass er nicht einmal bis zur Mauer reichen würde.

Scrupilo war jetzt auf dieser Seite der Kanone und versuchte, einen langen Zündstock anzuzünden. Mit einem flauen Gefühl im Magen wusste Johanna, dass das nicht gutgehen konnte. Sie waren allesamt Narren und Amateure, sie selbst ebenso wie die anderen. Und dieser arme Kerl wird gleich für nichts und wieder nichts sterben.

Johanna richtete sich auf. Ich muss es unterbinden. Jemand fasste sie am Gürtel und zog sie hinab. Es war eins von Holzschnitzerins Gliedern, eins von den fetten, die nicht ganz richtig gehen konnten. »Wir müssen es versuchen«, sagte das Rudel leise.

Scrupilo hatte den Stock jetzt angezündet. Plötzlich hörte er auf zu reden. Alle von ihm außer dem mit dem weißen Kopf liefen in die Deckung der Böschung. Einen Moment lang erschien das Johanna als sonderbare Feigheit, und dann begriff sie: Ein Mensch, der mit einem Explosivstoff herumspielte, würde auch versuchen, seinen Körper zu schützen — außer der Hand, die das Streichholz hielt. Scrupilo riskierte eine Verstümmelung, aber nicht den Tod.

Der mit dem weißen Kopf schaute über die niedergetretene Heide zurück zu Scrupilo. Er schien weniger bestürzt zu sein als vielmehr eindringlich zu lauschen. In dieser Entfernung konnte er nicht mehr Teil von Scrupilos Verstand sein, aber das Geschöpf war vermutlich klüger als jeder Hund — und anscheinend erhielt es eine Art Anweisung von den übrigen.

Weißkopf wandte sich um und ging zur Kanone. Den letzten Meter kroch er auf dem Bauch und nutzte das bisschen Deckung, das das Erdreich seitlich hinter der Lafette bot. Er hielt den Stock so, dass die Flamme am Ende sich langsam auf das Zündloch senkte. Johanna duckte sich hinter die Böschung…

Die Explosion war ein scharfer Knall. Holzschnitzerin drängte sich zitternd an sie, und pfeifende Schmerzlaute erklangen ringsum im Zelt. Der arme Scrupilo! Johanna fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Ich muss hinschauen, ich bin mitverantwortlich. Langsam stand sie auf und zwang sich, über das Feld zu blicken, wo vor einer Minute die Kanone gestanden hatte… — und immer noch stand! Dichter Rauch quoll aus beiden Enden, aber das Rohr war heil. Mehr noch, Weißkopf schwankte benommen bei dem Wagen, das weiße Fell mit Ruß bedeckt.

Der Rest von Scrupilo rannte zu Weißkopf hinaus. Alle fünf von ihm liefen immer rund um die Kanone und sprangen triumphierend übereinander. Für einen langen Augenblick starrte das übrige Publikum schweigend hin. Die Kanone war ganz. Der Kanonier hatte überlebt. Und fast eine Nebenwirkung — Johanna schaute über die Kanone hinweg den Hang hinauf: In der Krone der alten Mauer war eine meterbreite Bresche, die vorher nicht dagewesen war. Feilonius würde zu tun haben, das vor den Augen des Feindes zu verbergen!

Die dumpfe Stille wich dem lautesten Tumult, den Johanna bisher erlebt hatte. Es gab das übliche Kollern und auch andere Laute — ein Zischen hart an der Hörgrenze. Auf der anderen Seite des Zeltes liefen zwei Klauenwesen, die sie nicht kannte, ineinander: Für einen Moment des vernunftlosen Jubels waren sie ein riesiges Rudel von neun oder zehn Gliedern.

Wir werden das Schiff doch noch zurückbekommen! Johanna wandte sich Holzschnitzerin zu, um sie zu umarmen. Doch die Königin hatte nicht ins allgemeine Geschrei eingestimmt. Sie hatte sich zitternd zusammengedrängt, die Köpfe eng beieinander. »Holzschnitzerin?« Sie streichelte den Hals eines der Fetten, Großen. Es schnellte mit zuckendem Körper weg.

Ein Schlag? Ein Herzanfall? Die Namen des Todes aus alter Zeit kamen ihr in den Sinn. Aber wie würden sie bei einem Rudel wirken? Etwas war schrecklich falsch, und weiter niemand hatte es bemerkt. Johanna sprang auf. »Pilger!«, schrie sie.

Fünf Minuten später hatten sie Holzschnitzerin aus dem Zelt gebracht. Der Ort war immer noch ein Irrenhaus, jetzt aber für Johannas Ohren tödlich still. Sie hatte der Königin auf ihren Wagen geholfen, doch danach wollte niemand sie in die Nähe lassen. Sogar Pilger, der tags zuvor alles so eifrig übersetzt hatte, schob sie beiseite. »Es geht in Ordnung«, war alles, was er sagte, als er ans Vorderende des Wagens lief und die Zügel der zottigen Dingsdas packte. Der Wagen fuhr los, umringt von mehreren Rudeln Wachen. Für einen Augenblick schlug die Fremdartigkeit der Klauenwelt wieder über Johanna zusammen. Das war offensichtlich ein schwerer Notfall. Möglicherweise lag eine Person im Sterben. Leute rannten hin und her. Und dennoch… Die Rudel zogen sich in sich selbst zusammen. Niemand kam den anderen näher. Niemand konnte einen anderen berühren.

Der Augenblick ging vorüber, und Johanna lief aus dem Zelt hinaus, dem Wagen nach. Sie bemühte sich, auf der Heide neben dem schlammigen Weg zu laufen, und holte den Wagen fast ein. Alles war nass und kalt, grau wie das Kanonenmetall. Jedermann hatte sich so sehr auf den Versuch konzentriert — war das vielleicht noch ein Attentat der Flenseristen? Johanna strauchelte, fiel im Schlamm auf die Knie. Der Wagen fuhr um eine Ecke, aufs Steinpflaster. Jetzt war er außer Sicht. Sie stand auf und trabte weiter durch die Nässe, jetzt aber etwas langsamer. Sie konnte nichts tun, nichts tun. Sie hatte sich mit Schreiber angefreundet, und Schreiber war ermordet worden. Sie hatte sich mit Holzschnitzerin angefreundet, und nun…