»Lobet Jesus!« brüllte die Gemeinde.
Die Evangelisations-Versammlungen fanden in einem riesigen Zelt am Stadtrand von Odessa statt, und Mrs. Czinski nahm Josephine zu allen mit. Die Kanzel des Predigers war eine zwei Meter über dem Boden errichtete hölzerne Tribüne. Direkt vor der Tribüne befand sich der »Hort der himmlischen Herrlichkeit«, eine Art Bretterverschlag, wohin die Sünder gebracht wurden, um zu bereuen und bekehrt zu werden. Hinter dem Verschlag standen lange Reihen harter Holzbänke, dicht gefüllt mit singenden, fanatischen Suchern des Seelenheils, in Ehrfurcht erstarrt vor den Drohungen der Hölle und der Verdammung. Für ein sechsjähriges Kind war es eine Qual. Die Evangelisten waren Bibelgläubige, Pfingstan-beter, Methodisten und Adventisten, und alle atmeten sie Höllenqualen und Verdammung.
»Kniet nieder, ihr Sünder, und zittert vor der Macht Jehovas! Denn euer gottloses Verhalten hat Jesus Christus das Herz gebrochen, und dafür sollt ihr die Strafe des Zornes Seines Vaters erleiden! Seht euch unter den Gesichtern der Kinder hier um, die in Lust empfangen wurden und voller Sünde sind.«
Und die kleine Josephine schämte sich zu Tode, fühlte, dass jeder sie anstarrte. Wenn die schlimmen Kopfschmerzen einsetzten, wusste Josephine, dass sie eine Strafe Gottes waren. Sie betete jeden Abend, dass sie weggingen, damit sie wusste, dass Gott ihr vergeben hatte. Sie hätte gerne gewusst, was sie so Schlechtes getan hatte.
»Und ich werde Halleluja singen, und ihr werdet Halleluja singen, und wir alle werden Halleluja singen, wenn wir heimkehren.«
»Alkohol ist das Blut des Teufels, Tabak ist sein Atem, und Unzucht ist sein Vergnügen. Habt ihr euch mit Satan auf einen Handel eingelassen? Dann sollt ihr ewig in der Hölle brennen, auf immer verdammt, weil Luzi-fer kommt, um euch zu holen!«
Und Josephine zitterte und sah sich verstört um, klammerte sich heftig an die Holzbank, damit der Teufel sie nicht holen konnte.
Sie sangen: »Ich möchte in den Himmel kommen, meine lang gesuchte Freud.«
Aber Josephine missverstand den Text und sang: »Ich möchte in den Himmel kommen, mit meinem langen guten Kleid.«
Nach den donnernden Strafpredigten kamen die Wunder. Josephine sah gleichermaßen entsetzt und fasziniert zu, wie eine Prozession verkrüppelter Frauen und Männer zum »Hort der himmlischen Herrlichkeit« hinkte und kroch und im Rollstuhl fuhr, wo der Prediger ihnen die Hände auflegte und den himmlischen Mächten empfahl, sie zu heilen. Sie warfen ihre Stöcke und Krücken weg, und einige von ihnen plapperten in einem hysterischen Kauderwelsch, und Josephine duckte sich in panischer Angst.
Die Evangelisations-Versammlungen endeten immer damit, dass ein Teller herumgereicht wurde. »Jesus beobachtet euch – und Er hasst einen Geizhals.« Und dann war es vorbei. Aber die Angst verließ Josephine lange nicht.
Im Jahre 1946 hatte die Stadt Odessa, Texas, eine dunkelbraune Patina. Vor langer Zeit, als die Indianer dort gelebt hatten, hatte sie nach Wüstensand gerochen. Jetzt roch sie nach Öl.
Es gab zwei Arten von Leuten in Odessa: Öl-Leute und die anderen. Die Öl-Leute schauten nicht auf die anderen hinunter – sie taten ihnen einfach leid, denn sicherlich war es Gottes Wille, dass jedermann Privatflugzeuge und Cadillacs und Swimming-pools hatte und Sektparties für hundert Gäste gab. Deshalb hatte Er für Öl in Texas gesorgt.
Josephine Czinski wusste nicht, dass sie eine der anderen war. Mit sechs war Josephine Czinski ein schönes Kind, mit schimmerndem schwarzen Haar, tiefbraunen Augen und einem lieblichen ovalen Gesicht.
Josephines Mutter war eine geschickte Näherin, die bei den reichen Leuten in der Stadt arbeitete, und sie nahm Josephine mit, wenn sie zur Anprobe zu den Öl-Damen ging und Ballen von märchenhaftem Stoff in überwältigende Abendkleider verwandelte. Die Öl-Leute mochten Josephine, weil sie ein höfliches, freundliches Kind war, und sie mochten sich selbst dafür, dass sie sie mochten. Sie waren der Meinung, es sei demokratisch von ihnen, einem armen Kind von der anderen Seite der Stadt zu erlauben, mit ihren Kindern zu verkehren. Josephine war Polin, aber sie sah nicht so aus, und obgleich sie nie ein Mitglied des Klubs werden konnte, waren sie glücklich, ihr die Vorrechte einer Besucherin einzuräumen. Josephine durfte mit den Öl-Kindern spielen und ihre Fahrräder und Ponies und Hundert-Dollar-Puppen benutzen, so dass sie allmählich ein Doppelleben führte. Da war ihr Leben zu Hause in der winzigen Holzbaracke mit arg mitgenommenen Möbeln und der Wasserleitung draußen und Türen, die in den Angeln hingen. Auf der anderen Seite Josephines Leben in prächtigen Villen auf weitläufigen Landgütern. Wenn Josephine bei Cissy Topping oder Lindy Ferguson über Nacht blieb, bekam sie ein großes Schlafzimmer ganz für sich, und das Frühstück wurde ihr von Zimmermädchen oder Butlern serviert. Josephine liebte es, mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, aufzustehen, hinunterzugehen und die schönen Dinge im Haus, die bezaubernden Gemälde und das schwere Silber mit Monogramm und die von Zeit und Geschichte blankpolierten Antiquitäten, zu bewundern. Sie betrachtete sie prüfend und liebkoste sie und sagte sich, dass auch sie eines Tages solche Sachen besitzen würde, denn eines Tages würde sie in einem prächtigen Haus wohnen und von Schönheit umgeben sein.
Aber in beiden Welten fühlte Josephine sich einsam. Sie fürchtete sich, ihrer Mutter gegenüber von ihren Kopfschmerzen und ihrer Angst vor Gott zu sprechen, weil ihre Mutter eine grübelnde Fanatikerin geworden war, die besessen auf die Strafe Gottes wartete. Mit den Öl-Kindern wollte Josephine nicht über ihre Ängste sprechen, weil die von ihr erwarteten, dass sie heiter und freundlich war wie sie selbst. Daher war Josephine gezwungen, mit ihren Schrecken allein fertig zu werden.
An Josephines siebentem Geburtstag rief das Warenhaus Brubaker zu einem Foto-Wettbewerb auf, bei dem das schönste Kind in Odessa gewählt werden sollte. Das Wettbewerbsbild musste in der Foto-Abteilung des Warenhauses aufgenommen werden. Der Preis war ein Goldpokal, in den später der Name der Siegerin eingraviert werden sollte. Der Pokal war im Schaufenster des Warenhauses ausgestellt, und Josephine ging jeden Tag an dem Fenster vorbei, um ihn anzustarren. Sie wünschte ihn sich mehr, als sie sich je in ihrem Leben etwas gewünscht hatte. Josephines Mutter wollte nicht, dass sie an dem Wettbewerb teilnahm – »Eitelkeit ist der Spiegel des Teufels«, sagte sie -, aber eine der reichen Damen, die Josephine mochte, bezahlte das Bild. Von diesem Augenblick an wusste Josephine, dass der Goldpokal ihr gehörte. Sie sah ihn schon vor sich, wie er auf ihrem Toilettentisch stand. Sie würde ihn jeden Tag sorgfältig polieren. Als Josephine erfuhr, dass sie in die Endauswahl gekommen war, war sie zu aufgeregt, um zur Schule zu gehen. Sie blieb den ganzen Tag mit Magenschmerzen im Bett, weil sie so viel Glück nicht ertragen konnte. Zum ersten Mal würde sie etwas Schönes ihr eigen nennen.
Am nächsten Tag erfuhr Josephine, dass der Wettbewerb von Tina Hudson, einem der Öl-Kinder, gewonnen worden war. Tina war fast so schön wie Josephine, aber Tinas Vater war zufällig im Aufsichtsrat der Kette, zu der das Warenhaus Brubaker gehörte.
Als Josephine die Nachricht bekam, überfielen sie so starke Kopfschmerzen, dass sie am liebsten geschrieen hätte. Sie fürchtete, Gott würde wissen, wieviel ihr dieser schöne Goldpokal bedeutete, und Er musste es gewusst haben, denn ihre Kopfschmerzen dauerten an. Nachts weinte sie in ihr Kopfkissen, damit ihre Mutter sie nicht hören konnte.
Einige Tage nach dem Wettbewerb wurde Josephine übers Wochenende in Tinas Haus eingeladen. Der Goldpokal stand auf dem Kaminsims in Tinas Zimmer. Josephine starrte ihn lange an.
Als Josephine nach Hause kam, war der Pokal in ihrem Köfferchen versteckt. Er befand sich immer noch dort, als Tinas Mutter erschien, um ihn zurückzuholen.
Josephines Mutter züchtigte sie mit einer aus einem langen, grünen Zweig gefertigten Rute. Aber Josephine war ihrer Mutter nicht böse.