»Ich möchte mein eigenes Leben führen«, erklärte David Josephine, »aber ich kann nichts tun, was meine Mutter verletzt. Die Wahrheit ist – Dr. Young glaubt nicht, dass sie noch lange bei uns sein wird.«
Eines Abends erzählte Josephine David von ihren Träumen, nach Hollywood zu gehen und ein Star zu werden. Er sah sie an und sagte ruhig: »Ich werde dich nicht gehen lassen.« Sie merkte, dass ihr Herz wie wild schlug. Jedesmal wenn sie beisammen waren, wurde das Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen stärker. Josephines Herkunft bedeutete David gar nichts. Er besaß keinen Funken von Snobismus, und das machte den Vorfall, der sich eines Abends im Drive-in-Re-staurant abspielte, um so empörender.
Es war Polizeistunde, und David wartete draußen im Wagen auf sie. Josephine war mit Paco in der kleinen Küche, räumte noch rasch die letzten Tabletts weg.
»Ernste Verabredung, was?« fragte Paco.
Josephine lächelte. »Woher weißt du?«
»Weil du wie Weihnachten aussiehst. Dein hübsches Gesicht leuchtet von oben bis unten. Sag ihm von mir, er sei ein einziger glücklicher hombre!«
Josephine sagte lächelnd: »Werd' ich.« Einer plötzlichen Regung folgend, beugte sie sich vor und gab Paco einen Kuss auf die Wange. Einen Augenblick später hörte sie das Dröhnen eines Motors und dann das Kreischen von Reifen. Sie konnte gerade noch sehen, wie Davids weißes Coupe gegen den Kotflügel eines anderen Wagens krachte und davon-raste. Sie stand ungläubig da und sah die Schlusslichter in der Nacht verschwinden.
Um drei Uhr morgens, als Josephine sich ruhelos im Bett hin- und herwarf, hörte sie draußen vor ihrem Schlafzimmer einen Wagen vorfahren. Sie eilte zum Fenster und blickte hinaus. Hinter dem Steuer saß David. Er war betrunken. Schnell zog Josephine sich einen Morgenrock über und ging hinaus.
»Steig ein«, befahl David. Josephine öffnete den Wagenschlag und glitt neben ihn. Es folgte eine lange, drückende Stille. Als David endlich sprach, war seine Stimme belegt, aber nicht nur vom Whisky, den er getrunken hatte. Es war eine Wut in ihm, eine wilde Raserei, die die Worte aus ihm heraustrieb wie eine Serie kleiner Explosionen. »Du gehörst mir nicht«, sagte David. »Du bist frei und kannst tun und lassen, was dir beliebt. Aber solange du mit mir ausgehst, erwarte ich von dir, dass du nicht jeden gottverfluchten Mexikaner küsst. Verstanden?«
Sie sah ihn hilflos an und sagte dann: »Als ich Paco küsste, war es wegen – er sagte etwas, das mich glücklich machte. Er ist mein Freund.«
David holte tief Atem, versuchte, der Gefühle, die in ihm tobten, Herr zu werden. »Ich werde dir etwas erzählen, das ich noch keinem Menschen erzählt habe.«
Josephine saß abwartend da, fragte sich, was als nächstes kommen würde.
»Ich habe eine ältere Schwester«, sagte David. »Beth – ich bete sie an.«
Josephine hatte eine undeutliche Erinnerung an Beth, eine blonde, hellhäutige Schönheit, die Josephine immer aufgesucht hatte, wenn sie zu Mary Lou zum Spielen hinübergegangen war. Josephine war acht gewesen, als Beth starb. David musste ungefähr fünfzehn gewesen sein. »Ich erinnere mich an ihren Tod«, sagte Josephine.
Davids nächste Worte waren ein Schock. »Beth lebt.«
Sie starrte ihn an. »Aber ich -jeder glaubte -«
»Sie ist in einer Irrenanstalt.« Er wandte ihr das Gesicht zu, seine Stimme war wie erloschen. »Sie wurde von einem unserer mexikanischen Gärtner vergewaltigt. Beths Schlafzimmer lag in der Halle gegenüber von meinem. Ich hörte ihre Schreie und raste in ihr Zimmer. Er hatte ihr das Nachthemd heruntergerissen und lag auf ihr und -« Seine Stimme brach in der Erinnerung. »Ich rang mit ihm, bis meine Mutter hereingerannt kam und die Polizei rief. Sie kam schließlich und brachte den Mann ins Gefängnis. In derselben Nacht beging er in seiner Zelle Selbstmord. Aber Beth hatte den Verstand verloren. Sie wird nie wieder aus der Anstalt herauskommen. Nie. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich sie liebe, Josie. Sie fehlt mir so sehr. Seit dieser Nacht kann ich – ich – es nicht ertragen -«
Sie legte ihre Hand auf die seine und sagte: »Es tut mir leid, David. Ich verstehe. Ich bin froh, dass du mir's erzählt hast.«
Auf eine seltsame Art hatte dieser Vorfall sie nur noch enger miteinander verbunden. Sie sprachen über Dinge, die sie noch nie erörtert hatten. David lächelte, als Josephine ihm von dem religiösen Fanatismus ihrer Mutter erzählte. »Ich hatte mal so einen Onkel«, sagte er. »Er verschwand in einem Kloster in Tibet.«
»Nächsten Monat werde ich vierundzwanzig«, sagte David eines Tages zu Josephine. »Es ist eine alte Familientradition, dass die Kenyon-Männer bis vierundzwanzig verheiratet sind«, und ihr Herz hüpfte vor Freude.
Am nächsten Abend hatte David Karten für ein Stück im Globe Theat-re. Als er Josephine abholte, sagte er: »Vergessen wir das Stück. Reden wir von unserer Zukunft.«
Sowie Josephine das hörte, wusste sie, dass alles, wofür sie gebetet hatte, sich erfüllen würde. Sie konnte es in Davids Augen lesen. Sie waren voll Liebe und Verlangen.
Sie sagte: »Fahren wir zum Dewey Lake hinaus.«
Sie wollte, dass es der romantischste Heiratsantrag würde, der je gemacht worden war, etwas, das sie ihren Kindern immer wieder erzählen könnte. Sie wollte sich an jeden Augenblick dieser Nacht erinnern.
Dewey Lake war ein kleiner See, etwa vierzig Meilen von Odessa entfernt. Die Nacht war schön und sternenübersät, mit einem sanften, zunehmenden Mond. Die Sterne tanzten auf dem Wasser, und die Luft war voller rätselhafter Geräusche einer geheimen Welt, eines Mikrokosmos des Universums, wo winzige, unsichtbare Geschöpfe sich liebten und Beute machten und selbst Beute wurden und starben.
Josephine und David saßen schweigend im Wagen und horchten auf die Geräusche der Nacht. Josephine beobachtete ihn, wie er hinter dem Steuer des Wagens saß, sein anziehendes Gesicht war gespannt und ernst. Sie hatte ihn noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick. Sie wollte etwas Wundervolles für ihn tun, ihm etwas geben, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Und plötzlich wusste sie, was sie tun würde.
»Gehen wir schwimmen, David«, sagte sie.
»Wir haben keine Badeanzüge mit.«
»Spielt keine Rolle.«
Er wandte sich ihr zu, um sie anzublicken, und wollte etwas sagen, aber Josephine war schon ausgestiegen und rannte zum Ufer des Sees hinunter. Als sie anfing, sich auszuziehen, konnte sie ihn hinter sich hören. Sie sprang ins warme Wasser. Einen Augenblick später war David neben ihr.
»Josie…«
Sie wandte sich ihm zu, ihr Körper schmerzte vor Verlangen nach ihm. Sie umarmten sich im Wasser, und sie konnte seine männliche Härte spüren, und er sagte: »Wir können nicht, Josie.« Seine Stimme war erstickt vor Verlangen nach ihr. Sie langte hinunter und sagte: »Doch. O ja, David.«
Sie waren wieder am Ufer, und er war auf ihr und in ihr und eins mit ihr, und sie waren beide ein Teil der Sterne und der Erde und der samtenen Nacht.
Sie lagen lange beieinander und hielten sich umschlungen. Viel später erst, nachdem David sie zu Hause abgesetzt hatte, erinnerte sich Josephine, dass er nicht um sie angehalten hatte. Aber es spielte keine Rolle mehr. Was sie miteinander geteilt hatten, war eine stärkere Bindung als jede Heiratszeremonie. Er würde morgen um ihre Hand anhalten.
Josephine schlief am nächsten Tag bis Mittag. Sie wachte mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf. Das Lächeln war noch da, als ihre Mutter ins Schlafzimmer kam, ein entzückendes altes Hochzeitskleid über dem Arm. »Geh zu Brubaker hinüber und bring mir zwölf Meter Tüll. Mrs. Topping hat mir soeben ihr Hochzeitskleid gebracht. Ich muss es bis Sonnabend für Cissy ändern. Sie und David Kenyon heiraten.«