Sie schickte ihn fort.
Die Schinderei begann.
Jill unternahm den Versuch, etwas zu tun, was die Ärzte als unmöglich bezeichnet hatten. Als sie Toby das erstemal hochhob und ihn in seinen Rollstuhl setzte, erschrak sie darüber, wie leicht er war. Sie brachte ihn im Aufzug, der inzwischen installiert worden war, hinunter und begann mit ihm im Schwimmbecken zu arbeiten, wie sie es bei dem Heilgymnastiker gesehen hatte. Aber was nun folgte, unterschied sich grundlegend von der Arbeit des Therapeuten. Wo er behutsam und zart gewesen war, ging Jill hart und unerbittlich vor. Wenn Toby zu sprechen versuchte, um ihr zu bedeuten, dass er müde sei und es nicht mehr ertragen könne, sagte Jilclass="underline" »Du bist noch nicht fertig. Noch einmal. Für mich, Toby!«
Und sie zwang ihn, es noch einmal zu versuchen.
Und noch einmal, bis er vor Erschöpfung weinend dasaß. Nachmittags ging Jill daran, Toby sprechen zu lehren. »Ooh… oooooooh.«
»Ahaaah… aaaaaaaaaagh.«
»Nein! Oooooooooooh. Mit runden Lippen, Toby. Befiehl ihnen, dir zu gehorchen. Oooooooooh.«
»Aaaaaaaaagh…«
»Nein, verdammt noch mal! Du wirst wieder sprechen! Los, sag es -Oooooooh.«
Und er versuchte es von neuem.
Jill fütterte ihn jeden Abend und legte ihn ins Bett und hielt ihn in den Armen. Sie zog seine nutzlosen Hände langsam an ihrem Körper auf und ab, von ihren Brüsten hinunter zu der weichen Spalte zwischen ihren Beinen. »Fühl das, Toby«, flüsterte sie. »Das ist alles dein, Liebling. Es gehört dir. Ich will dich. Ich will, dass du gesund wirst, damit wir uns wieder lieben können. Ich will, dass du wieder mit mir schläfst, Toby.«
Er blickte sie mit seinen lebendigen, hellen Augen an und gab unzusammenhängende, wimmernde Laute von sich.
»Bald, Toby, bald.«
Jill war unermüdlich. Sie entließ das Personal, weil sie niemanden im Haus haben wollte. Danach begann sie selbst zu kochen. Sie bestellte die Lebensmittel telefonisch und verließ das Haus nie. Anfangs war sie noch damit beschäftigt gewesen, Telefonanrufe entgegenzunehmen, aber die waren bald seltener geworden und hatten dann gänzlich aufgehört. Die Nachrichtensprecher verlasen keine Bulletins mehr über Toby Temples Zustand. Die Welt wusste, dass er im Sterben lag. Es war nur eine Frage der Zeit.
Doch Jill würde Toby nicht sterben lassen. Und wenn er starb, würde sie mit ihm sterben.
Die Tage verschwammen zu einer langen, endlosen Folge von Müh und Plagerei. Jill war um sechs Uhr früh auf den Beinen. Als erstes musste sie Toby säubern. Er konnte nichts mehr halten. Obgleich er einen Katheter hatte und eine Windel trug, beschmutzte er sich nachts, und die Bettwäsche sowie Tobys Pyjamas mussten häufig gewechselt werden. Der Gestank im Schlafzimmer war fast unerträglich. Jill füllte eine Schüssel mit warmem Wasser, nahm einen Schwamm und ein weiches Tuch und säuberte Tobys Körper von Urin und Kot. Wenn er sauber war, trocknete sie ihn ab und puderte ihn, dann rasierte und kämmte sie ihn.
»So, nun siehst du großartig aus, Toby. Deine Verehrer sollten dich jetzt sehen. Ja, sie werden dich schon bald sehen. Sie werden um den Eintritt kämpfen, um dich zu sehen. Der Präsident wird dasein – alle werden dasein, um Toby Temple zu sehen.«
Dann bereitete Jill Tobys Frühstück. Sie machte Haferflockenbrei oder lockere Mehlspeisen oder Rührei; Speisen, die sie ihm in den Mund löffeln konnte. Sie fütterte ihn wie ein Baby und redete die ganze Zeit auf ihn ein und versprach ihm, dass er wieder gesund werden würde.
»Du bist Toby Temple«, intonierte sie im Sing-Sang. »Jeder liebt dich, jeder möchte dich wiederhaben. Deine Fans da draußen warten auf dich, Toby. Du musst für sie gesund werden.«
Und ein neuer, entsetzlich strapaziöser Tag begann.
Sie schob seinen nutzlosen, gelähmten Körper zum Schwimmbecken. Nach den Übungen massierte sie ihn und fuhr mit der Sprechtherapie fort. Dann war es Zeit für sie, ihm eine Mahlzeit zuzubereiten, und danach würde alles wieder von vorn beginnen. Und unaufhörlich erzählte Jill Toby, wie wunderbar er wäre, wie sehr man ihn liebte. Er war Toby Temple, und die Welt wartete auf seine Rückkehr. Abends brachte sie ihm oft eines der Alben mit seinen Presseausschnitten und hielt es hoch, damit er es sehen konnte.
»Da sind wir mit der Queen. Erinnerst du dich noch, wie sie dich an diesem Abend feierten? So wird es wieder werden. Du wirst größer denn je sein, Toby, größer denn je.«
Am Abend kroch sie erschöpft auf das Notlager, das sie sich neben seinem Bett eingerichtet hatte. Um Mitternacht wurde sie von einem widerlichen Gestank geweckt. Sie schleppte sich zu Tobys Bett, um seine Windel zu wechseln und ihn zu säubern. Und dann war es schon wieder soweit, mit den Vorbereitungen fürs Frühstück zu beginnen und einem neuen Tag ins Auge zu blicken.
Und wieder einem. In einer endlosen, eintönigen Folge.
Jeden Tag trieb Jill Toby ein bisschen härter an, ein bisschen weiter. Ihre Nerven waren so angespannt, dass sie Toby ins Gesicht schlug, wenn sie den Eindruck hatte, dass er sich keine Mühe gab. »Wir werden den Kampf gewinnen«, sagte sie leidenschaftlich. »Du wirst wieder gesund werden.«
Jill war von der aufreibenden Routine, die sie sich auferlegte, körperlich total erschöpft, aber wenn sie sich nachts hinlegte, fand sie keinen Schlaf. Zu viele Bilder tanzten durch ihren Kopf wie Szenen aus alten Filmen. Sie und Toby, umdrängt von Reportern bei den Filmfestspielen in Cannes… Der Präsident in ihrem Haus in Palm Springs, wie er Jill ein Kompliment machte. Fans, die sich bei einer Premiere um Toby und sie scharten… Das Goldene Paar… Toby, wie er hinaufschritt, um seine Medaille in Empfang zu nehmen, und zu Boden stürzte… stürzte… Schließlich versank sie in Schlaf.
Manchmal wachte sie mit einem plötzlichen heftigen Kopfschmerzanfall auf, der nicht verschwinden wollte. Sie lag in der Dunkelheit, kämpfte gegen den Schmerz an, bis die Sonne aufging, und dann war es Zeit, sich auf die Füße zu zwingen.
Und alles würde wieder von vorn beginnen. Es war, als wären sie und Toby die einzigen Überlebenden einer längst vergessenen Katastrophe. Ihre Welt war auf die Dimensionen dieses Hauses, dieser Räume, dieses Mannes zusammengeschrumpft. Von der Morgendämmerung bis nach Mitternacht trieb sie sich unbarmherzig an.
Und sie trieb Toby an, ihren in dieser Hölle gefangenen Toby, gefangen in einer Welt, in der es einzig Jill gab, der er blindlings gehorchen musste.
Aus den düster und qualvoll sich dahinschleppenden Wochen wurden Monate. Toby begann zu weinen, wenn er Jill auf sich zukommen sah, denn er wusste, dass er bestraft werden würde. Von Tag zu Tag wurde Jill unbarmherziger. Sie zwang Tobys nutzlose Glieder, sich zu bewegen, bis er unerträgliche Schmerzen litt. Mit gurgelnden Lauten versuchte er, sie zu bitten aufzuhören, aber Jill hatte nur eine Antwort: »Noch nicht. Nicht, bevor du wieder ein Mann bist, nicht, bevor wir es ihnen allen zeigen werden.« Und sie knetete seine kraftlosen Muskeln weiter. Er war ein hilfloses, erwachsenes Baby, eine Pflanze, ein Nichts. Aber wenn Jill ihn anblickte, sah sie ihn, wie er einst wieder sein würde, und sie erklärte: »Du wirst jetzt gehen!«
Dann stellte sie ihn auf die Füße und hielt ihn aufrecht, während sie ein Bein vor das andere zwang, so dass er sich wie eine betrunkene, ausgerenkte Marionette vorwärts bewegte.
Ihre Kopfschmerzen traten immer häufiger auf. Helles Licht oder ein lautes Geräusch oder eine plötzliche Bewegung konnten sie auslösen. Ich muss einen Arzt aufsuchen, dachte sie. Später, wenn es Toby wieder gutgeht. Jetzt hatte sie weder Zeit noch einen Raum für sich.
Sie war nur für Toby da.
Jill schien wie besessen. Ihre Kleider hingen lose an ihr, aber sie hatte keine Ahnung, wieviel sie abgenommen hatte oder wie sie aussah. Ihr Gesicht war mager und verzerrt, ihre Augen hohl. Ihr einst herrlich schimmerndes schwarzes Haar war stumpf und strähnig. Sie wusste es nicht, aber sie hätte sich auch nichts daraus gemacht.